Streikbrecher
In neun Tagen wird das Eröffnungsspiel der Fußball-EM angepfiffen und die Frage nach der Abendgestaltung ist in vielen Familien für einen Monat geklärt. Doch das Stadion Saint-Denis in Paris könnte beim Match Frankreich gegen Rumänien nicht bis auf den letzten Platz gefüllt sein: In Frankreich herrscht neben König Fußball auch Streik. Geschlossene Tankstellen, bestreikte Züge und Metros sowie fehlende Fluglotsen drohen die Grande Nation vor dem sportlichen Großereignis ins Chaos zu stürzen. Die größte Gewerkschaft CGT will durch Druck auf die französische Regierung eine geplante Aufweichung der 35-Stunden-Woche verhindern.
Für Österreicher sind das unvorstellbare Zustände. Wir sind es gewohnt, dass der Kampf zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern am grünen Tisch ausgefochten wird und nicht auf der Straße. Die Vereinbarungen zwischen Regierung, Gewerkschaft und Kammern hinter verschlossenen Türen galten als ein Erfolgsrezept der Zweiten Republik. Sie garantierten über Jahrzehnte sozialen Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit. Doch diese von uns allen geschätzte Stabilität endete nicht erst mit der Wahl eines grünen Bundespräsidenten. Als nicht mehr notwendige, wenig zeitgemäße und praxisbezogene „altbekannte Rituale“ kritisiert Vizekanzler und VP-Chef Reinhold Mitterlehner die einseitige Klientelpolitik der Interessenvertreter. Mitterlehner wird schon wissen, wovon er spricht, schließlich hat er sein ganzes berufliches Leben in Wirtschaftskammer und Wirtschaftsbund verbracht. Hier versucht sich jemand von seinen ehemaligen Arbeitgebern zu emanzipieren, vielleicht auch wegen der andauernden Kritik an der Registrierkassenpflicht.
Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist in Österreich ebenfalls der Anlassfall, die Kritik geht aber tiefer. Regierung und Sozialpartner geben sich gegenseitig die Verantwortung für den Reformstillstand, und der Konflikt beschränkt sich nicht nur auf das Verhältnis ÖVP und Wirtschaftskammer. Auch die SPÖ betreibt ein On-off-Verhältnis mit dem Gewerkschaftsbund. Die Karriere von Rudolf Hundstorfer vom Gewerkschaftschef zum Sozialminister bis zum verhinderten Bundespräsidenten direkt in das politische Ausgedinge ist das beste Beispiel. Spannend wird daher die Position der SPÖ unter ihrem neuen Vorsitzenden Christian Kern. Nachdem sein Vorvorgänger Alfred Gusenbauer nach der BAWAG-Affäre mit der Zurückdrängung der Gewerkschaft gescheitert war, baute dessen Nachfolger Werner Faymann seine Hausmacht wieder ganz auf die Genossen.
In Österreich wurde die Streikdauer traditionell in Sekunden gemessen. Eine Entflechtung von Mandat in Gewerkschaft und Parlament würde der Transparenz der Entscheidungsabläufe trotzdem gut tun. Französische Verhältnisse sollten deswegen aber nicht einziehen. Und alle Fußballfans müssen auf Streikbrecher hoffen.
Der Konflikt beschränkt sich nicht nur auf das Verhältnis ÖVP und Wirtschaftskammer, auch die SPÖ betreibt ein On-off-Verhältnis mit dem Gewerkschaftsbund.
kathrin.stainer-haemmerle@vorarlbergernachrichten.at
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin,
lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
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