Kurz schlägt Kern
Könnten Herr und Frau Österreicher den Kanzler direkt wählen, würden derzeit nur traurige acht Prozent ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner ihre Stimme schenken. Alles eine Frage des Personals. Bleiben wir einen Moment beim Konjunktiv: Träte Sebastian Kurz anstelle von Mitterlehner an, weist ihm die jüngste Spectra-Umfrage der OÖN einen fulminanten Sieg in der Kanzlerfrage aus. Mit 32 Prozent Zustimmung ist Sebastian Kurz der Einzige, der Kern nicht nur das Wasser reichen kann, sondern den amtierenden Bundeskanzler deutlich schlägt. Thema Wasser: die übersteigerte Erwartungshaltung an Super-Sebastian wird zunehmend zu einem Problem, das Kurz nach der Wahl noch lange beschäftigen wird. Auch ein Sebastian Kurz kann nicht übers Wasser laufen, selbst wenn viele das gern sähen.
Diese Was-wäre-wenn-Spiele sind nicht völlig sinnbefreit. Sie können nach innen Rückhalt und Selbstvertrauen geben: Die Politik lässt sich zu oft bei grundlegenden Entscheidungen von Umfragen leiten. Sollten die Strategen der ÖVP, so es sie tatsächlich gibt, immer noch den richtigen Zeitpunkt abpassen, Sebastian Kurz zu inthronisieren: jetzt wäre er gekommen.
Doch in Österreich werden Parteien gewählt, und da wird klar: 30 Prozent würden ihr Kreuz aktuell bei der FPÖ hinmalen. Angesichts von zehn Prozentpunkten Zuwachs seit der letzten Wahl die deutlichste Verschiebung innerhalb des gesamten Politikbarometers. Innerhalb der Schwankungsbreite: die SPÖ mit 28 Prozent. Klarer jedenfalls: Die Mitterlehner-ÖVP wird mit 21 Prozent abgekanzelt, die Grünen treten mit zwölf Prozent auf der Stelle, und die Neos? Wie im Land sind sie auch auf Bundesebene ein Farbtupfer mit unsicherer Zukunft im Nationalrat.
Die ÖVP hat drei Manöver zu vollbringen: Nach der Kern-Spaltung ist der Wechsel zu Sebastian Kurz unausweichlich. Wer will auf die Lichtgestalt verzichten, von der 68 Prozent der Österreicher eine gute Meinung haben? Und dann kommt, nach der Wahl, das härteste Tauziehen. Denn die FPÖ wird ein gewichtiges Wort mitzureden haben, wenn es um die Regierungsbildung geht.
Dass der Wahlkampf längst begonnen hat, zeigt die Umtriebigkeit der Kandidaten bei Internet-Videos. Seit die Bundespräsidentenwahl gezeigt hat, dass eine Werbeagentur mit einem Video („Oma Gertrud“) das Ruder herumreißen konnte, darf auf dieser Spielwiese keiner fehlen: Kern trägt von Kameras begleitet Pizzen aus, Kurz’ Tage werden als Instagram-Stories inszeniert. Und wenn’s irgendwo ein Waxing-Studio zu retten gibt, stehen alle auf der Matte.
Zurück bleibt der schale Nachgeschmack, dass es derzeit mehr um schnelle Effekte als um Österreich insgesamt geht.
gerold.riedmann@vn.at, Twitter: @geroldriedmann, Tel. 05572/501-320
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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