Als Vorarlberg Kanton werden wollte
Historiker Pichler: „Anschlussfrage war eine Magenfrage.“
Bregenz In Katalonien gibt es eine starke Bewegung für die Loslösung von Spanien, erst am Sonntag fand ein umstrittenes Referendum statt. Auch Vorarlberg wollte einst neue Wege gehen: Eine Mehrheit sprach sich in einer Volksabstimmung am 11. Mai 1919 mit 81 Prozent für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Schweizer Bundesregierung über einen möglichen Beitritt des Landes zur Schweiz aus. Nur in Bludenz, Bolgenach und Hittisau war eine Mehrheit dagegen.
Wie kam es dazu? Mit dem Ende der Habsburgermonarchie im November 1918 war in Österreich die staatliche Ordnung zerbrochen. Als Folge davon suchten der ungarisch- und der slawischsprachige Teil des Vielvölkerstaates die Unabhängigkeit. Das Denken der deutschen Sprachgruppe war hingegen an Großräumen orientiert. Die Lebensfähigkeit des Kleinstaates Österreich wurde bezweifelt. Daher erklärte sich die am 12. November 1918 gegründete Republik Deutsch-Österreich als Teil der deutschen Republik und strebte einen Anschluss an. Am 15. März 1919 hatte die Provisorische Landesversammlung Vorarlbergs erklärt, dass die Zugehörigkeit zu Deutsch-Österreich nur als provisorisch zu verstehen sei und ein Volksentscheid über den Anschluss an einen größeren Staat – neben der Schweiz waren Bayern und Württemberg Optionen – entscheiden solle.
Die Werbung für einen Beitritt Vorarlbergs zur Schweiz war im November 1918 von dem Lustenauer Lehrer Ferdinand Riedmann gestartet worden, der bis Jänner 1919 Unterschriften von rund der Hälfte der Stimmberechtigten für die Einleitung einer Volksabstimmung sammelte. Auf Schweizer Seite gründete der St. Galler Kantonsrat und Arzt Ulrich Vetsch 1919 ein Aktionskomitee „Pro-Vorarlberg“, welches den Beitritt Vorarlbergs zur Eidgenossenschaft propagierte. Von November 1919 bis Juni 1920 bemühte es sich, die notwendigen 50.000 Unterschriften für eine Verfassungsinitiative zu sammeln, scheiterte aber deutlich. Besonders in Buchs und St. Margrethen war die Ablehnung eines Vorarlberger Beitrittes stark ausgeprägt.
Als Gegner der Anschlussbestrebungen in Vorarlberg erwiesen sich die Deutschfreiheitlichen, die Großdeutsche Partei sowie die Vertreter der Textilindustrie, die sich für einen Beitritt zu Deutschland einsetzten. Der im April 1919 gegründete Verein „Vorarlberger Schwabenkapitel“ wurde zum Sprachrohr ihrer gemeinsamen Anliegen, eine mehrheitliche Unterstützung durch die Bevölkerung blieb aus. Im am 10. September 1919 von Staatskanzler Karl Renner unterzeichneten Vertrag von Saint-Germain war für die Vorarlberger keine Volksabstimmung vorgesehen, das Land sollte bei Österreich bleiben.
Besondere Umstände
Der Historiker Meinrad Pichler meint gegenüber den VN: „Die damalige Begeisterung für die Schweiz war natürlich den besonderen Umständen geschuldet. Durch das Ende des Hauses Habsburg waren die bisherigen loyalen Bindungen an Österreich aufgelöst; zudem hatte der lange Krieg die materielle Lage größter Bevölkerungsteile massiv verschlechtert. Jenseits des Rheins aber gab es weder Kriegsschäden noch Hunger. Die Anschlussfrage war deshalb in erster Linie eine Magenfrage und erst in weiterer Hinsicht ein politisch fundierter Wunsch.“ ee