Macht der Sozialpartner
Wenn mediale Aufmerksamkeit ein Indiz für politische Macht ist, hat die Sozialpartnerschaft in Österreich offensichtlich noch lange nicht ausgedient. Nach der Hofübergabe von Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl an Noch-Wirtschaftsminister Harald Mahrer folgte gestern der Rückzug von Arbeiterkammerchef Rudolf Kaske ohne Nachfolgeregelung. Kurz zuvor drohten die Metaller-Gewerkschafter mit Streik. Die Arbeitgeber warfen im Gegenzug den Arbeitnehmervertretern vor, den Verhandlungstisch verlassen zu haben. Gegenseitige Schuldzuweisungen statt des Ausgleichs der Interessen dominieren die Herbstlohnrunde.
Hinzu kommen täglich Forderungen von FPÖ und Neos, die Pflichtmitgliedschaft der Kammern abzuschaffen. Keine Frage: Die Sozialpartner sehen schweren Zeiten entgegen, aber sie tragen selbst einen Teil der Schuld. Am Anspruch des scheidenden AK-Chefs Kaske: „Die Sozialpartner sind nicht Teil des Problems. Sie sind Teil der Lösung“, sind sie gescheitert.
Die Sozialpartnerschaft war lange Garant für sozialen Frieden. Doch ihre Protagonisten haben es verabsäumt, ihre Rolle im 21. Jahrhundert neu zu definieren. Die personellen Wechsel an der Spitze bieten jetzt eine neue Gelegenheit, die kommende Regierung den Anlass. Doch wenn das Gegeneinander wichtiger scheint als der Ausgleich, beraubt sich die Sozialpartnerschaft selbst ihrer Grundlage. Mit dem Ende der großen Koalition muss das Selbstverständnis einer Nebenregierung der Besetzung des vorparlamentarischen Raums weichen. Dort, wo politische Entscheidungen nach klaren und transparenten Regeln und im Interesse aller beschlussfähig gemacht werden.
Schon vor Abschluss der schwarz-blauen – Pardon: türkis-blauen – Regierungsverhandlungen stehen die Zeichen auf Sturm mit Potenzial für Orkanstärke. Denn außergewöhnlich viele Wähler sehen sich trotz hoher Wahlbeteiligung in diesem Parlament nicht mehr vertreten. Zu den 1.280.112 Nichtwählern kommen jene 50.952 Wahlberechtigen, die eine ungültige Stimme abgegeben haben. Die 192.638 Grünwähler müssen das Scheitern ihrer Partei an der Vier-Prozent-Hürde verdauen und 223.543 den Rückzug von Peter Pilz. Bleiben noch 111.516 Stimmen, die sich auf Kleinparteien wie die traditionelle KPÖ, neue wie Düringers Liste Gilt oder regionale wie die NBZ verteilten. Macht in Summe beeindruckende 1.858.761 Bürger. Im Vergleich: Die ÖVP haben 1.595.526 Österreicher gewählt.
Nicht alle werden sich in den nächsten Wochen zum Protest auf die Straße begeben, weil kein gemeinsames Projekt sie eint. Was diese Bürger aber gemeinsam haben, ist die Skepsis gegenüber der nächsten Regierung und die Distanz gegenüber den im Parlament vertretenen Parteien. Mit dem Wunsch nach „Mitbestimmung 4.0“ hat sich Kaske verabschiedet. Was das sein könnte, ließ er offen. Doch nicht nur die Sozialpartner sollten ein Interesse an einer neuen Form des Ausgleichs haben. Auch die neuen Regierungsparteien müssen der drohenden Polarisierung in unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen.
„Schon vor Abschluss der Regierungsverhandlungen stehen die Zeichen auf Sturm mit Potenzial für Orkanstärke.“
Kathrin Stainer-Hämmerle
kathrin.stainer-haemmerle@vn.at
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
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