Minderjährige Flüchtlinge – die verlorenen Kinder
Über ein Kind zu schreiben, das Suizid begangen hat, tut mir weh und ist eine ethische Gratwanderung. Weil es nur fassungslos macht, wenn ein Kind keine Hoffnung mehr sieht; und weil Journalisten mit Berichten über Suizide besonders zurückhaltend sein müssen, um nicht andere Menschen, die in einer Krise sind, vielleicht zu beeinflussen. Dennoch, über jenen elfjährigen Buben aus Afghanistan, der am Sonntag vor einer Woche in Baden an seinem Leben verzweifelte, soll man schreiben. Um all jene geflohenen jungen Menschen mit ihren Nöten nicht auszublenden – und zu vergessen.
Andere Elfjährige haben Freizeitstress zwischen Fußball, Freunden und Musikunterricht, der junge Afghane kümmerte sich um seine Geschwister und dolmetschte bei Behördengängen, er soll als Einziger der Familie ausreichend Deutsch gesprochen haben. Er lebte seit 2016 mit sechs Geschwistern in Baden, beide Eltern sind tot. Die Bezirkshauptmannschaft übertrug die Obsorge über die Geschwister von sieben bis 16 Jahren dem ältesten Bruder, aber der 23-Jährige dürfte damit überfordert gewesen sein. Es soll laut Ö1 mehrmals Gefährdungsmeldungen gegeben haben, auch wegen eines neunjährigen Bruders mit Downsyndrom. Die Volksanwaltschaft prüft den Fall.
Hinter dieser tragischen Geschichte steht mehr als ein Einzelschicksal. Bei der Obsorge minderjähriger Flüchtlinge kommt es in der Praxis zu schwierigen Situationen, gerade auch, wenn die Verantwortung von der Behörde an Geschwister übertragen wird. Wie zum Beispiel in jenem Fall Anfang 2017, bei dem die BH Baden einem 18-jährigen Afghanen die Obsorge für seine beiden krebskranken Schwestern übertragen hatte.
Unter den geflohenen Kindern gibt es viele, die keine älteren Geschwister haben. Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge – im Amtsdeutsch UMF – machten 2015, zur Zeit der großen Fluchtbewegung, elf Prozent von allen aus, die hierzulande einen Asylantrag gestellt hatten. Sie sind oft verloren im System und bleiben sich selbst überlassen, sagen Asylexperten. Gesetzlich wird den Minderjährigen eine Obsorge zur Seite gestellt, in den meisten Bundesländern übernimmt diese Aufgabe automatisch das Jugendamt, wie in Wien. Hier gibt es Projekte, bei denen Kinder in Familien aufgenommen werden, das Jugendamt führt das Asylverfahren, die Pflegefamilie kümmert sich um Wohlergehen und Erziehung.
Sinnvolle Maßnahmen, um die Situation der verlorenen Kinder zu verbessern. Ein Grundproblem bleibt laut der „Asylkoordination Österreich“ allerdings, dass minderjährige Flüchtlinge quasi als „halbe Kinder“ behandelt werden und man weniger Ressourcen in sie investiert. Sollten diese jungen Leute, die in großer Zahl bleiben werden, keine Perspektive bekommen, darf man sich nicht wundern, wenn sie in unserer Gesellschaft nie ankommen werden.
„Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind oft verloren im System und bleiben sich selbst überlassen.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln und lebt in Wien. Podcast: @ganzoffengesagt
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