„Russland steht zwischen Demokratie und Diktatur“

MOSKAU Die russische Zivilgesellschaft hat es derzeit sehr schwer, sagt die Vorarlberger Leiterin des ORF-Korrespondentenbüros in Moskau, Carola Schneider. Was die Freiheitsrechte angeht, entwickle sich das Land zurück.
Die Oktoberrevolution hat sich heuer zum 100. Mal gejährt, nämlich am 7. November. Ein schwieriges Erbe für Russland?
Schneider Der 7. November war früher einer der höchsten Feiertage. Es war ja mehr oder weniger das Gründungsdatum für die spätere Sowjetunion. Nach dem Zusammenbruch hat sich das geändert. Schon in den 1990er-Jahren unter Präsident Boris Jelzin war das Datum kein Feiertag mehr. Auch heute nicht, obwohl die Kommunisten immer noch durch die Straßen ziehen. Das Spezielle heuer war also nicht, dass der Staat das Datum nicht als Feiertag ansieht. Vielmehr wurde das 100-jährige Jubiläum vom Kreml, und das bedeutet Wladimir Putin, einfach totgeschwiegen.
Warum?
Schneider Der Präsident sieht Russland als Großmacht. Seine Politik und sein Staatsbild beziehen sich auf die Zarenzeit, aber auch auf das sowjetische Imperium. Das bedeutet, dass er weder das eine noch das andere verurteilen kann. Außerdem mag Putin keine Revolutionen. Man sieht es daran, dass regierungskritische Proteste sofort unterdrückt werden, egal, wie wenige Teilnehmer es gibt. Zudem heißt es bei jeder Demo, sie werde vom Ausland gesteuert.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie Russland weder als Demokratie noch als Diktatur. Wie lässt sich das Land einstufen?
Schneider Es ist wohl irgendetwas dazwischen. Man kann nicht wirklich Diktatur dazu sagen. Die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa, die ich im Buch porträtiere, hat ihre Arbeit in der Sowjetdiktatur im Untergrund begonnen. Später war sie gezwungen, fast 30 Jahre in die Emigration zu gehen. Sie sagt, dass das natürlich nicht mehr vergleichbar ist mit der heutigen Situation. Wenn sie sich mit mir zum Gespräch trifft, einer westlichen Journalistin, werden weder sie noch ich verhaftet. Gleichzeitig kann man auch nicht von einer Demokratie sprechen, weil gewisse Grundfreiheiten nicht gewährleistet sind: Das betrifft Medienfreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und die Freiheit, zwischen Parteien zu wählen, die tatsächlich unterschiedlich sind. Russland hat gewisse Züge, die nicht mehr so autoritär sind wie früher. Aber es ist keine Demokratie in unserem Sinne.
Wohin geht die Entwicklung?
Schneider Die Lage war schon besser. Jetzt geht es klar in Richtung autoritäres Regime und Repression.
Wie gut ist die Zivilgesellschaft organisiert?
Schneider Sie hat es sehr schwer. Es gibt ja keine wirkliche Versammlungsfreiheit. Es wurden zudem viele Gesetze auf den Weg gebracht, die Bürgerrechts- und Menschenrechtsorganisationen in ihrer Arbeit einschränken. Etwa die auch international kritisierte Regelung gegen Nichtregierungsorganisationen. Viele NGO bekommen Geld aus dem Ausland, da sie in Russland keine Förderung erhalten. Sie müssen nun entweder auf diese Mittel verzichten, oder sich als ausländischer Agent deklarieren. Die Bezeichnung bedeutete zu Sowjetzeiten „Volksfeind“ oder „Spion.“ Unter diesem Etikett arbeitet niemand mehr mit ihnen zusammen.
Russland hat seinen Einfluss in der Welt ausgebaut. Ist es wieder ein starker außenpolitischer Player?
Schneider Putin hat Russland zu einem Land gemacht, das nicht so leicht übergangen werden kann. Zum Teil hat das sicher mit Furcht zu tun. Seit der Krim-Annexion und dem Schüren des Ostukraine-Konflikts besteht eine gewisse Angst vor Russland, man weiß nicht recht, was Putin als Nächstes macht. Es hängt jedenfalls nicht damit zusammen, dass das Land eine starke Wirtschaftsmacht wäre wie China. Was den Nahen Osten betrifft, also besonders Syrien, kommt man wirklich nicht an Moskau vorbei. Das liegt aber auch daran, dass sich der Westen zunehmend aus der Region zurückgezogen hat. Putin hat das Vakuum geschickt gefüllt.
Sind die wegen der Ukraine-Krise verhängten Sanktionen eine große Belastung?
Schneider Zum einen gibt es die Maßnahmen der EU und den USA. Zum anderen hat Putin Gegensanktionen verhängt, um Europa zu bestrafen. Dadurch können viele Lebensmittel nicht mehr eingeführt werden. Russische Ökonomen sagen, dass sich die derzeitige Rezession im Land zu 80 Prozent aus selbstverschuldeten Strukturproblemen ergibt. Viel zu lange wurden keine Reformen durchgeführt, Russland ist nach wie vor abhängig vom Ölpreis. Die Sanktionen machen hingegen 20 Prozent aus. VN-RAM
„Man weiß nicht, was Putin als Nächstes macht.“
Zur Person
Carola Schneider
Geboren 1972 in Bludenz. Nach Abschluss ihres Dolmetsch- und Übersetzerstudiums (Französisch, Russisch) arbeitete Schneider von 1996 bis 2001 im aktuellen Dienst des ORF-Landesstudio Vorarlberg. Bis 2003 war sie in Paris für den ORF tätig, später in Zürich. Seit 2011 ist sie Leiterin des ORF-Korrespondentenbüros in Moskau. Foto: Evgenia Tokareva
Heute, Dienstag, präsentiert Schneider ihr Buch „Mein Russland“ (im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen) in der Remise in Bludenz, am Mittwoch im ORF-Landesstudio in Dornbirn.