„Genug Geld für die Pflege“

Strukturreformen wären überfällig, sagt Gesundheitsexperte.
WIEN Bei den laufenden Gesundheitsausgaben nehmen jene für die Pflege eigentlich am stärksten zu. Allein von 2004 bis 2016 sind sie in Österreich von drei auf 5,4 Milliarden Euro gestiegen. Wobei diese Entwicklung eher zu Lasten der privaten als der öffentlichen Haushalte geht, wie den Zahlen zu entnehmen ist, die die Statistik Austria führt: Die privaten Ausgaben, die in den Daten enthalten sind, sind von 584 Millionen Euro auf 1,4 Milliarden Euro explodiert; sie haben also um 135 Prozent zugenommen.
Auf Krankheit ausgerichtet
Eine Entspannung ist nicht in Sicht. Wie auch: „Unser Gesundheitssystem ist auf Krankheit ausgerichtet“, erklärt der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer im Gespräch mit den VN. Und in Verbindung mit der Alterung trage das eben dazu bei, dass es mehr und mehr Pflegefälle gibt. Ein verhängnisvoller Kreislauf.
Vor diesem Hintergrund will der Experte nicht einmal darüber diskutieren, welche neuen Finanzierungsmöglichkeiten es geben würde: „Davor graut mir“, bittet er um Verständnis: „Wir geben schon genug Geld aus, wir setzen es nur nicht sinnvoll ein.“ Ja, Pichlbauer geht sogar noch einen Schritt weiter, um festzustellen: „Würde man noch mehr Geld aufwenden, würde man nur noch mehr Pflegeanreize schaffen.“ Wie es zuletzt etwa durch die Abschaffung des Pflegeregresses geschehen sei, die sich Bund und Länder einen dreistelligen Millionenbetrag kosten lassen: Sie dürfte die Nachfrage nach Heimplätzen bzw. der teuersten Form der Pflege erhöhen.
Wirtschaftsforschungsinstitute haben im Unterschied zu Pichlbauer keine Hemmungen, potenzielle Geldquellen zu prüfen: Beim WIFO tendiert man eher zu einer zweckgebundenen Erbschafts- und Schenkungssteuer. Beim IHS hat man wiederum Varianten einer eigenen Pflegeversicherung durchgerechnet. Ergebnis: Würden allen Pensionisten zu Beiträgen verpflichtet werden, würde das die Netto-Pensionen um durchschnittlich achteinhalb Prozent reduzieren. Würden auch Erwerbstätige zur Kasse gebeten werden, würde das die Netto-Einkommen um 1,6 Prozent schmälern. Beides wird eine Politik, die keine neuen Steuern will, kaum zulassen.
Also steigt der Druck zu Strukturreformen, wie sie von Pichlbauer gefordert werden: In einem ersten Schritt könnte es demnach zu einer Bündelung der Kompetenzen und einer Zusammenführung des Gesundheits- und des Pflegewesens kommen. Wobei es laut Pichlbauer nicht um die leidige Frage gehen müsste, ob der Bund oder die Länder gestärkt werden sollten: „Die volle Konzentration sollte stattdessen auf sozialmedizinische Zentren in den Regionen gerichtet werden.“ Dort sei es in einer wirkungsvollen Art und Weise möglich festzustellen, wie es den Leuten geht, und ihnen so frühzeitig zu helfen, dass viele Leiden und damit auch Pflegefälle gar nicht erst aufkommen.
„Wenn zusätzliches Geld fließen soll, dann nur in die Prävention“, meint der Gesundheitsökonom. Österreich hätte da sehr viel Potenzial, ist er überzeugt und verweist dazu auf einen OECD-Vergleich. Demnach sind hierzulande 22 Prozent der über 65-Jährigen pflegebedürftig. Das sind ungewöhnlich viele. In Belgien zum Beispiel sind es um ein Viertel und in Dänemark sogar um mehr als die Hälfte weniger. Dort sind gerade einmal acht Prozent der Älteren so gebrechlich, dass sie im Alltag auf fremde Hilfe angewiesen sind. JOH
