“Rechte Straftaten nehmen leider zu”

Bundestagspräsident Schäuble (76) erklärt, weshalb Ressentiments gegenüber Ausländern zum Antisemitismus führt.
Lochau In Bregenz und Lochau trafen sich am Dienstag und Mittwoch die Parlamentspräsidenten der deutschsprachigen Länder, um über Antisemitismus zu diskutieren. Mit dabei war der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Im VN-Interview spricht er über steigenden Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, die AfD und die EU-Wahl.
Warum ist es im Jahr 2019 noch nötig, über Antisemitismus zu sprechen?
Das Thema ist leider noch aktueller geworden. Wir erleben in vielen europäischen Ländern eine Zunahme von Antisemitismus in den unterschiedlichen Erscheinungsformen. Wir wissen auch, dass sich jüdische Mitbürger leider zunehmend bedroht fühlen. Das ist eine schlimme Entwicklung.
Weshalb ist das Problem größer geworden?
Antisemitismus gibt es in verschiedenen Aufwallungen leider seit vielen Jahrhunderten. Sobald neue Kommunikationsformen entstehen, lassen sich Radikalisierungen leichter verbreiten. Das war schon in den Anfangszeiten des Buchdrucks so. Heute zerfällt mit dem Internet zunehmend die gemeinsame Kommunikationsbasis. Unsere Öffentlichkeit teilt sich in Teilöffentlichkeiten auf, gerade in sozialen Netzwerken. Dazu haben wir die verstärkte Zuwanderung, die für Verunsicherungen sorgt. Umso mehr gilt, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich integrieren müssen. Ich kann nicht akzeptieren, dass durch Zuwanderer Antisemitismus importiert wird. Denn dies ist klar: Das Existenzrecht Israels gehört, wie die Bundeskanzlerin einmal gesagt hat, zur deutschen Staatsräson.

Wird der Spagat zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus schwieriger?
Das ist kein Spagat. Israel ist die einzige liberale rechtsstaatliche Demokratie in diesem Raum. Die Kritik an der jeweiligen Regierung wird doch gerade in Irasel selbst heftig geübt. Aber richtig ist, dass wir sensibel sein müssen, wenn Kritik an israelischer Politik gleichzeitig Antisemitismus schürt. Wer Kritik an Israel tabuisiert, leistet auch wieder anderen antisemitischen Bestrebungen Vorschub.
Wächst die Gefahr von rechts allgemein?
Sie müssen sich nur die Kriminalstatistik ansehen. Die Straftaten in diesem Bereich nehmen in einem bedauerlichen und erschreckenden Maße zu. Wir hatten ja auch den NSU-Fall in Deutschland, etwas, von dem wir geglaubt hätten, dass es nicht mehr möglich sei. Die jüdische Gemeinschaft hat uns schon immer und zu recht gemahnt, mit aller Entschiedenheit gegen jeden Ansatz von Ressentiments gegenüber Ausländern vorzugehen. Denn wer Minderheiten diskriminiert oder zu Sündenböcken macht, landet am Ende beim Antisemitismus.
Welche Rolle spielen dabei politische Parteien wie die AfD?
Parteien gestalten das Gemeinwesen mit. Das heißt, an allem, was gut und was schief läuft, sind die Parteien beteiligt. Andererseits darf man die Politik nicht für alles verantwortlich machen, damit macht man es sich zu einfach. Die AfD hat sich in ihren offiziellen Äußerungen immer sehr klar gegen Antisemitismus gestellt, aber wenn jedes Problem auf Migration zurückgeführt wird, gerät man unweigerlich in eine Eskalationsschiene, in der es generell gegen Minderheiten geht, und am Ende eben auch gegen Juden.

Wie hat die AfD die Arbeit im Bundestag verändert?
Nicht so furchtbar, wie Sie vielleicht annehmen. Wir sind sechs Fraktionen, die Debatten sind lebhafter, die Redezeiten kürzer. Im Parlament sind die Abgeordneten der AfD gewählt wie andere auch, und ihre Wähler haben in gleichem Maße Anspruch auf Respekt. Alles in allem: Im Bundestag geht es nach parlamentarischen Regeln zu, schwieriger ist es außerhalb. Mein Eindruck ist, die Partei hat keine saubere Trennung gegenüber Anhängern, mit denen man als anständiger politischer Mensch eigentlich nichts zu tun haben möchte oder sollte.
Wie beurteilen Sie die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin?
Der Rat konnte sich auf Ursula von der Leyen verständigen, weil sie im Parlament bei allen Vorbehalten auf große Sympathie stieß. Sie ist Mitglied der Europäischen Volkspartei und eine sehr engagierte und erfahrene Europäerin. Insofern war es nicht verwunderlich, dass es am Ende im Parlament eine Mehrheit für sie gab. Gleichzeitig kann ich EU-Abgeordnete grundsätzlich verstehen, die sagten: “Na gut, wenn ihr Regierungschefs meint, ihr könnt machen, was ihr wollt, stimme ich nicht zu.” Diese Haltung hätte Europa aber in diesen aufregenden Zeiten nicht wirklich genutzt.

Soll das Spitzenkandidatenmodell vertraglich festgelegt werden?
Ich bin ein Anhänger des Spitzenkandidatenmodells. Man könnte es beim nächsten Mal besser machen, und Ursula von der Leyen hat bereits angekündigt, dass sie dafür Vorschläge machen wird, auch wenn das nicht einfach ist. Persönlich bin ich ja dafür, dass man versucht, Änderungen der europäischen Verträge durchzusetzen. Wenn man aber sieht, wie schwierig das in der Praxis ist, und sich den Konvent noch einmal vor Augen führt, der später zum Lissabon-Vertrag geführt hat, wird es richtig kompliziert. Ich hatte in meiner zwölfjährigen Regierungstätigkeit mit vielen österreichischen Kollegen zu tun. Wenn ich sie gefragt habe, was sie von einer Vertragsänderung halten, antworteten sie immer: “Um Gottes willen! Da müssten wir ein Referendum abhalten. Lass bloß die Finger davon, Wolfgang.”
Was bedeutet die Wahl von Boris Johnson zum britischen Premier für den Brexit?
Alle, die Johnson kennen, sagen, er sei für alle möglichen Überraschungen gut. Jetzt lassen wir ihn mal machen und uns überraschen. Wir alle bedauern den Brexit. Wenn die Briten das aber unbedingt wollen, dann sollten wir schauen, dass wir eine vernünftige Lösung für einen geregelten Austritt finden. Und wenn sie es unvernünftig wollen, wird Europa auch nicht untergehen.
Interview: Hanna Reiner, Michael Prock

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