Parallelslalom
Marcel Hirscher wird heute Abend vor Millionenpublikum seinen Rücktritt bekannt geben. Von so viel Zuschauerinteresse können Parteien auch in einem Wahlkampf nur träumen. Demzufolge verdrängt der Spitzensport die Spitzenpolitik heute aus dem Hauptabendprogramm. Die Wahlkämpfer müssen warten, bis Seriensieger Hirscher uns über seine Zukunftspläne berichtet hat.
Sebastian Kurz geht heute Abend aber ohnehin nicht an den Start. Sein geplantes Duell gegen Peter Pilz übernimmt die ehemalige Staatssekretärin und EU-Kandidatin Karoline Edtstadler. Das ist für einen ehemaligen Bundeskanzler, der bald wieder einer sein will, die richtige Entscheidung. Warum sollte Kurz dem chancenlosen Peter Pilz auch nur eine Minute Diskussion auf Augenhöhe gönnen.
Kurz kann also den TV-Abend heute genießen. Auch den Abschied von Marcel Hirscher, der seine sportliche Karriere am Höhepunkt beendet. Ein Timing, das Politiker nur selten schaffen. Kurz hingegen kämpft die nächsten Wochen um sein erstes Comeback. Sein Weg soll ja erst begonnen haben, wie ÖVP-Plakate verkünden. Hirscher wird neue Wege einschlagen.
Kurz lässt sich dazu nicht in die Karten blicken, ob er nach dem 29. September Türkis-Blau fortsetzen will oder lieber ebenfalls einen neuen Weg bei den Regierungsverhandlungen wählt. Bisher waren Kurz keine Festlegungen öffentlich zu entlocken: Er schließt niemanden aus, favorisiert aber auch keine Partei.
Doch der Abtretende könnte den Antretenden noch in einer Sache einen guten Rat geben: Wie es ist, wenn nicht mehr über den Sieg diskutiert wird, sondern nur mehr über die Höhe des Abstands zum Zweitplatzierten. Wie es gelingt mit einer hohen Erwartungshaltung auf Dauer umzugehen. Wie es sich anfühlt, wenn für eine ganze Mannschaft Erfolg und Misserfolg an einer Person hängen. Hirscher und Kurz befinden sich in einem zeitversetzten Parallelslalom.
Und noch eine ungewöhnliche Gemeinsamkeit gibt es in diesem Wahlkampf: Die Grünen surfen auf der Klimakrisenwelle in den Nationalrat. Die ÖVP auf der Kurzwelle zu weiteren vorgezogenen Neuwahlen. Die Steiermark wählt auf Wunsch des Landeshauptmannes bereits im November statt erst im Mai. So wird aus einem beinahe wahlfreien Jahr, in dem nur Vorarlberg geplant war, plötzlich ein Superwahljahr.
Hermann Schützenhöfer argumentiert, dass ein kurzer Wahlkampf dem Land eher nütze. Vielmehr hat er wohl Angst, dass ihm der populäre Rückenwind von der Nationalratswahl bis in den Frühling abflaut und stattdessen Bilder von Protesten gegen eine Neuauflage von Türkis-Blau in Wien seinen Wahlkampf untermalen. Das wäre ein Parallelslalom, den sich kein Titelverteidiger wünscht.
„Kurz lässt sich nicht in die Karten blicken, ob er nach dem 29. September Türkis-Blau fortsetzen will.“
Kathrin Stainer-Hämmerle
kathrin.stainer-haemmerle@vn.at
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
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