Ex-ÖVP-Politiker Neisser: „Das Christlich-Soziale ging verloren“

Politik / 25.09.2019 • 21:00 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Ex-ÖVP-Politiker Neisser: „Das Christlich-Soziale ging verloren“
Eine Dreierkoalition wäre interessant, meint Neisser. VN/PAULITSCH

Früherer Zweiter Nationalratspräsident über alte Grundsätze, Macht und Föderalismus in der Volkspartei.

dornbirn Heinrich Neisser, Politikwissenschaftler und ehemaliger Zweiter Nationalratspräsident, fühlt sich der sogenannten Westachse nahe, wie er im Interview mit den VN in Dornbirn erläutert.

Wie christlich-sozial ist die ÖVP Ihrer Meinung nach?

Da gab es sicher eine große Veränderung. Schon aus einer historischen Entwicklung heraus war das Christlich-Soziale ein ganz wesentliches Element der Identität der Volkspartei. In der Zwischenzeit ist es aber verloren gegangen. Diese Entwicklung hat eigentlich schon vor der Zeit von Sebastian Kurz begonnen, wurde unter ihm aber verstärkt und weitergeführt. Von einem klaren christlich-sozialen Bekenntnis und den entsprechenden Verhaltensweisen der Politiker ist in der ÖVP wenig zu merken.

Aber hat nicht Kurz der Partei erst wieder zu Wahlerfolgen verholfen?

Die Art und Weise, wie Kurz und seine Leute in der ÖVP an die Macht gekommen sind, ist auf der einen Seite sehr beeindruckend. Auf der anderen Seite kann man das Ganze natürlich auch kritisch sehen.

Inwiefern?

Wir müssen uns klar sein, dass sich die politischen Parteien in einem grundlegenden Wandel befinden, das sehen wir europaweit. Das gilt nicht nur für die konservativen, sondern auch für die sozialdemokratischen Parteien. Die alten Begriffe, mit denen wir uns immer identifiziert haben, wie die politische Mitte, rechts und links stimmen nicht mehr. Es findet eine Art Gemengelage zwischen den verschiedenen Richtungen statt. Das bringt die Gefahr, dass sich Parteien nur noch als Verwalter der Macht sehen. Wir brauchen aber Parteien, die ein Konzept haben. Kurz muss außerdem erkennen, dass die Zeit der Alleingänge vorbei ist. Sie können die großen Fragen der Zukunft nur in einem Miteinander lösen. Das soll aber kein Plädoyer für die alte ÖVP-SPÖ-Koalition sein.

Im Westen gilt die ÖVP als schwarz, nicht als türkis. Zeigt das Uneinigkeit?

Uneinigkeit ist vielleicht ein zu scharfes Wort. Aber es zeigt, dass dieser aktuelle Weg nicht von allen goutiert wird. Es gibt diese Westachse, und ich fühle mich dieser Bewegung sehr nahe. Ich will nicht das Schema der alten ÖVP aufleben lassen. Sie dürfen aber nicht vergessen, dass die Partei viele Stammwähler hat. Auch diese erwarten sich etwas.

Was bedeutet das für die Partei?

Die ÖVP braucht mehrere Orte der Diskussion. Der Föderalismus war in der Volkspartei zwar immer eine gewisse Barriere. Aber er war letztlich auch belebend. Ich habe zum Beispiel immer gerne in Vorarlberg über Demokratie diskutiert, weil es hier ein Gesprächsklima dafür gibt. Heute sehen wir eine totale Abstinenz der Länder in der Frage der Bundeslinie.

Wäre eine Neuauflage von Türkis-Blau Ihrer Meinung nach zielführend?

Ein Zusammengehen mit der FPÖ ist aus meiner Sicht nicht zukunftsweisend. Ich fände den Versuch einer Dreierkoalition interessant und halte die Neos durchaus für regierungsfähig.

Eine Dreierkoalition aus ÖVP, SPÖ und Neos?

Das wäre möglich. Hauptproblem wären nicht die Neos, da gibt es gewisse Konvergenzen mit der ÖVP. Entscheidend ist, ob die SPÖ bereit dafür wäre. Ich erwarte mir auch viel von einer neuen Grünen-Bewegung. Das deutsche Beispiel ist bemerkenswert.

Heinrich Neisser

Heinrich Neisser wurde am 19. März 1936 in Wien geboren. Seine politische Karriere begann Ende der 60er-Jahre unter Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP). 1975 bis 1999 war Neisser ÖVP-Abgeordneter zum Nationalrat, 1994 bis 1999 Zweiter Nationalratspräsident. Der Politologe lehrte an der Universität Wien und an der Universität Innsbruck.

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