Was hat uns bloß so ruiniert?
Keine Angst, ich werde Sie an dieser Stelle nicht mit jener Spekulation behelligen, die Medien momentan ja am meisten interessiert: Wird es eine türkis-grüne Bundesregierung geben, ja oder nein? Ganz einfach: Ich weiß es (derzeit) nicht. Natürlich ist die Koalitions-Entscheidung gerade nach dem Ibiza-Skandal wichtig für das Land. Dennoch, hinter der vollen Konzentration auf die üblichen Vorgänge nach einer Wahl bleiben grundlegende Fragen leider unbeantwortet – und sie werden nicht einmal formuliert.
Wichtiger wäre ohnehin, was die gesamte Politiklandschaft aus dem Ibiza-Skandal lernen kann. Wie kann Politik transparenter agieren, ob es die eigenen Finanzen oder Entscheidungsprozesse angeht? Warum gibt es nach dem erschütternden Strache-Gudenus-Video so gut wie keine Momente der Selbstreflexion im System?
Jetzt kann man es sich leicht machen und sagen: Gleich nach Ibiza begann der Wahlkampf und in dieser Phase ist ein Innehalten, ein Nachdenken über sich selbst unmöglich. Doch kaum ist die Wahl geschlagen, flüchte sich die Politik gerne in eine simple Erklärung, sagte mir Bernhard Görg, einst Wiener ÖVP-Obmann und Vizebürgermeister, kürzlich in einem Gespräch: „Wir sind ja nicht betroffen, es ist nur die FPÖ, wir sind sauber, meinen die anderen. Es fehlt allgemein das Unrechtsbewusstsein.“
Görg verabschiedete sich 2002 aus dem Wiener Rathaus, das politische Geschäft ist heute noch härter als vor 20 Jahren. Die Arbeit an der politischen Kultur hat hierzulande keine Tradition und ist im heutigen Betrieb nur mehr Luxus.
In den immer schneller werdenden Zyklen hat niemand Zeit für eine so mühsame Debatte (oder will sie sich nicht nehmen). Nur ohne Selbstreflexion ist auch keine Erneuerung möglich. Wer nicht weiß, wer er ist, kann sich nicht entwickeln. Vielleicht sollte man auch als Politikmensch einmal in den Spiegel schauen und sich ehrlich fragen: Was hat uns bloß so ruiniert?
Es ist nicht egal, wenn sich einst staatstragende Parteien wie die SPÖ nach ihrem historisch schlechtesten Ergebnis keine Zeit für einen grundlegenden Selbstreflexions-Prozess nehmen, sondern getrieben von außen und von innen (viele Auskenner mit viel Meinung) zwar von „Reform“ oder „neu denken“ reden, aber vor allem über Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und andere Personalien nachdenken. Ideen für mehr interne Mitbestimmung, Aufbrechen alter Strukturen und eine moderne Sozialdemokratie gibt es schon lange, umgesetzt hat man sie nie.
Und auch wenn ÖVP-Chef Sebastian Kurz es 2017 erfolgreich geschafft hat, seine Partei neu aufzustellen und ihre alten Strukturen zu modernisieren – wirkliche, nachhaltige Erneuerung bedeutet wohl noch mehr, als Machtfragen anders zu regeln.
„Ohne Selbstreflexion ist keine Erneuerung möglich. Wer nicht weiß, wer er ist, kann sich nicht entwickeln.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln und lebt in Wien. Podcast: @ganzoffengesagt
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