Flucht aus der DDR: Zwei Momente, eine Entscheidung

René Helfer, Präsident des Vorarlberger Landesfechtverbands, kehrte am Tag des Mauerfalls seiner Heimatstadt Leipzig den Rücken.
schwarzach Das Jahr 1989 hielt für René Helfer zwei entscheidende Momente bereit. Sie führten dazu, dass der Leipziger, heute Präsident des Vorarlberger Landesfechtverbandes (VLFV), die DDR endgültig verlassen und nach Österreich flüchten sollte. Absehbar war das nicht. Denn Helfer, damals Anfang 20, führte zunächst ein vergleichsweise privilegiertes Leben, wie er im Gespräch mit den VN erklärt. Als Leistungssportler – Helfer war schon in jungen Jahren professioneller Fechter, später Trainer – habe man viele Vorzüge genossen. „Ich durfte reisen, hatte sogar Adidas-Turnschuhe“, sagt der 54-Jährige. „Ich konnte alles erleben, was man sich als junger Mensch so wünscht.“
Doch dann kam der Monat September, und mit ihm der erste entscheidende Moment. Helfer erinnert sich an die Montagsdemonstrationen gegen die DDR-Führung, die in Leipzig ihren Anfang nahmen. Er und seine Trainerkollegen bekamen eines Tages den Auftrag, das Training frühzeitig zu beenden. In der Stadt gebe es Probleme, hieß es. Dass etwas nicht stimmte, zeigte sich schon allein daran, dass die Straßenbahn nicht mehr fuhr. Die Trainer gingen zu Fuß Richtung Zentrum. „Da kam uns der ganze Demonstrationszug entgegen.“ In Erinnerung ist Helfer vor allem eines geblieben: „Es war komplett ruhig, einfach still.“ Von dieser Ruhe sei eine unglaubliche Kraft ausgegangen. Für den damals 21-Jährigen ergab sich in der Folge ein komplett neues Bild des Lebens in der DDR. Im Gespräch mit seinen Freunden habe er von einer lähmenden Perspektivlosigkeit erfahren, einer wirtschaftlich katastrophalen Situation, von langen Arbeitstagen ohne wirkliche Beschäftigung. Dazu kamen Versorgungprobleme und ständige Wohnungsnot. Alles Dinge, von denen der Leistungssportler zuvor nicht wusste. Er schildert das Gefühl folgendermaßen: „Im Prinzip weißt du mit 20: Das ist mein Leben, ich habe alles gesehen, was ich sehen durfte und sehen konnte.“

Der zweite wichtige Moment ereignete sich in der Straßenbahn. Helfer hatte eine Freundin; das Pärchen war Teil eines Freundeskreises von etwa 20 Personen. Am Wochenende verabredete man sich im privaten Rahmen regelmäßig zu Parties. Doch immer wieder kam es vor, dass jemand fehlte. Eines Tages waren sogar drei Personen weg, einfach nicht da.
Helfer hat die Situation noch genau in Erinnerung. „Während der Straßenbahnfahrt nach Hause beschwerte ich mich gegenüber meiner Freundin: ‚Die hauen alle ab, das kann ja nicht sein.‘“ Die Antwort fiel nicht so aus, wie er sich das ausgemalt hatte. Sie fragte geradeheraus: „Gehen wir auch?“ Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. „Und in dieser halben Stunde haben wir uns dazu entschieden, die DDR zu verlassen.“ Es war Oktober.
„Habt ihr euch das gut überlegt?“
Am nächsten Tag beantragten Helfer und seine Freundin ein Visum für Ungarn. Der Abflug fiel auf den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls. In den frühen Morgenstunden konnten die beiden aber noch nichts von den Entwicklungen im geteilten Berlin ahnen. Angekommen in Budapest, erreichten Helfer und seine Freundin den Grenzübergang zum Burgenland per Taxi. Der Grenzbeamte fragte: „Habt ihr euch das gut überlegt?“ Das Pärchen bejahte.
Dann ging es ganz schnell. Die beiden kamen in ein kleines Hotel, eine Art Sammelpunkt. Mittlerweile war Abend, man aß gemeinsam, ein Fernseher lief. „Plötzlich kamen die Nachrichten. Und sie zeigten, dass in Berlin die Mauer offen ist“, erinnert sich Helfer. „Das war spektakulär. Als wir in der Früh weg sind, hat niemand geahnt, dass so etwas passieren kann.“
Für die beiden jungen Menschen war von Vornherein klar, dass es nicht weiter in die BRD geht. „Wir wollten nach Österreich“, erzählt Helfer. Zu Hilfe kam ein Fahrer, dessen Aufgabe es war, die Menschen an der Grenze abzuholen und in das Hotel zu bringen. „Er nahm uns kurzerhand mit nach Wien und brachte uns zur deutschen Botschaft.“ In 20 Minuten waren die bundesdeutschen Pässe fertig.
Zwischenstopp Vorarlberg
Als Trainer fand Helfer sofort eine Anstellung bei einem Wiener Fechtklub. Eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung war kein Problem. Drei Jahre lang sollte der Leipziger in der Bundeshauptstadt bleiben. Die Beziehung war mittlerweile in die Brüche gegangen, die Ex-Freundin in die USA ausgewandert. Helfer hielt es nicht mehr in Wien. Da kam das Angebot gerade recht, nach Dornbirn zu kommen. Dort suchte man einen Trainer. Das einzige Problem: Helfer wollte eigentlich schon ein ähnliches Angebot aus Bonn annehmen. Bis dahin waren aber noch einige Monate Zeit. Und so entschied er sich, einen Zwischenstopp in Vorarlberg einzulegen. Dabei sollte es nicht bleiben. Helfer war von den Zielen und Visionen begeistert. Er blieb. Dem Vorarlberger Fechtsport ist der 54-Jährige, mittlerweile verheiratet und Vater von drei Kindern, immer noch eng verbunden.
Das Leipzig seiner Jugend gebe es nicht mehr, erklärt Helfer. „Die Stadt hat sich massiv verändert.“ Mit seiner Entscheidung zur Flucht hat der Familienvater indes niemals gehadert. Obwohl 30 Jahre seit den beiden entscheidenden Momenten vergangen sind, hat er sie lebhaft vor Augen. Er ist sich sicher: „Die Wende war für Leipzig, für Ostdeutschland, nein, für Gesamt-Deutschland eine absolut positive Sache.“
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