Zustimmen, nicht zuzustimmen
Das Beste beider Welten, sagt Sebastian Kurz. Tatsächlich könnte der Titel des offenbar 300 Seiten dicken Regierungsprogramms „Agree to disagree“ lauten. Man einigt sich, man vertritt wechselseitig Standpunkte, die im jeweiligen Parteiprogramm niemals stehen würden. Es zeichnet sich auf Bundesebene eine türkis-grüne Sowohl-als-auch-Regierung nach Vorarlberger Vorbild ab. Eine Regierung, die weiterhin an der türkisen Einwanderungspolitik festhalten kann und sich gleichzeitig ein grünes Vorzeige-Klimaschutz-Projekt auf die Fahnen schreiben wird. Eine Regierung, die die türkise Präventivhaft umsetzen will und gleichzeitig ein Transparenzpaket nach grüner Machart auf die Straße bringt. So wie die Vorarlberger Regierung Photovoltaik und öffentlichen Verkehr vervielfacht – und Straßen baut (bauen will).
Inhaltliche Vorschau
Wer bisher daran gezweifelt hatte, erhielt gestern zur besten ZIB2-Sendezeit die Live-Bestätigung von Sebastian Kurz (33) und Werner Kogler (58). Kogler konnte sich nicht zurückhalten, einen ersten Ausblick aufs Inhaltliche zu geben, indem er deutlich auf den Plan verwies, Österreich zum Klimaschutz-Vorzeige-Land zu machen. In den vergangenen Tagen wurden ja nahezu ausschließlich Personalia gestreut. So ist die Zusammensetzung der gesamten Bundesregierung mit ihren elf ÖVP-Ministerien und vier Grünen-Ressorts bekannt, inhaltliche Eckpunkte wurden bislang tunlichst hinter verschlossenen Türen diskutiert.
Große Chance
Für Österreich zeichnet sich eine große Chance ab: Es könnte uns ein mutigeres, zukunftsgewandteres, klimafreundlicheres Programm präsentiert werden als es die Kurz-ÖVP alleine hergebracht hätte. Und das, ohne die Finanzen auf den Kopf zu stellen, ohne die Vernunft über Bord zu werfen. Dass Leonore Gewesslers Klimaschutz-Super-Ministerium aus Umwelt, Energie und Infrastruktur bei der ÖVP besondere Aufmerksamkeit genießen wird, ist auch durch die Bestellung des energiekundigen Magnus Brunner als Staatsekretär verbrieft worden.
Frage der Toleranz
Wie erfolgreich die türkis-grüne Regierung arbeiten wird können, liegt an der Toleranz der Regierungspartner. Wie tolerant kann Sebastian Kurz sein, wenn ein grünes Regierungsmitglied nicht in die Richtung zieht, die das eingeschworene Kurz-Team gerade für richtig hält? Wie tolerant ist die grüne Basis, wenn die Grünen Mehrheitsbeschaffer bei Themen wie der Präventivhaft sind, die außerhalb ihres von der ÖVP zugestandenen Klimaschutz-Transparenz-Kompetenz-Korridors liegen?
Die zweite Frage hat der grüne Bundeskongress schon am Freitag und Samstag zu beantworten. Erwartbar ist die Bestätigung des ausverhandelten Programms, egal, was drinsteht. Denn für eine Prüfung des Konvoluts mit mehreren hundert Seiten bleiben nur einige Stunden Zeit. Und den Schmerz, den öffentliches Streiten bringt, spüren die heute wieder sehr erfolgreichen Grünen noch in den Knochen.
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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