„Die Pflegestufe ist eine Momentaufnahme“

Interessensvertreter fordern Pflegegeldreform. Regierung verspricht Weiterentwicklung.
Wien Das Pflegegeld ist nicht nur eine finanzielle Unterstützung. Die Einstufung – also die Entscheidung, wieviel Geld Betroffene erhalten – legt auch fest, ob Pflegebedürftige Anspruch auf gewisse Angebote haben, etwa auf eine Förderung für die ambulante Pflege. Doch gerade die Einstufung widerspräche häufig dem Bedarf der Betroffenen, sagen die Caritas und die Interessensvertretung pflegender Angehöriger. Die Bundesregierung verspricht nun eine Neubewertung nach betreuenden, pflegerischen und medizinischen Maßstäben.
340 Klagen gegen die Einstufung
In den vergangenen fünf Jahren wurden in Vorarlberg 41.238 Pflegegeldgutachten erstellt. 7261 stammen aus dem Jahr 2019. Von Jänner bis November erreichten die Pensionsversicherungsanstalt 340 Klagen gegen die Einstufung, heißt es in einer Anfragebeantwortung von Sozialminister Rudolf Anschober (Grüne) an FPÖ-Mandatarin Rosa Ecker. Sie fordert unter anderem, dass der Anspruch auf Pflegegeld ab Antragstellung gilt. Es solle auch im Sterbefall rückwirkend bezahlt werden. Zwischen der Antragstellung und Zuerkennung sind von 2014 bis 2019 in Vorarlberg 3096 Betroffene verstorben. 2019 traf dies auf 543 Personen zu. Die Zahlen zeigten, dass die Abwicklung beschleunigt werden müsse, sagt Ecker.
Schnellere Verfahren wünscht sich auch die Caritas. Sie spricht sich außerdem für eine Erhöhung des Pflegegeldes aus. Es sei zwar positiv, dass die Leistung seit heuer automatisch inflationsangepasst werde, sagt Generalsekretär Bernd Wachter. Der Wertverlust seit 1993 müsse aber noch ausgeglichen werden. Zudem fordert Wachter ein Umdenken in der Pflegegeldeinstufung: „Sie orientiert sich stark an den Defiziten und zu wenig an den Ressourcen. Was hat der Betroffene für Möglichkeiten? Welche gesundheitsfördernden Maßnahmen sind sinnvoll?“ Vor allem in den unteren Pflegestufen wären Sachleistungen hilfreich, hält er fest. Dabei könne es um laufendes Gedächtnistraining bei Demenzerkrankten gehen, um einen Rechtsanspruch auf Beratung für Angehörige oder um ein Stundenkontingent in Tageszentren. Demenz, Autismus und psychische Beeinträchtigungen bräuchten in der Pflegegeldeinstufung mehr Gewicht.
Mehr-Augen-Prinzip gefordert
Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger und Wiener Grüne-Mandatarin, lobt unterdessen die Ankündigungen der Bundeskoalition. Ein Pflegegeld, das den Bedarf umfassend berücksichtige, sei ebenso wichtig wie ein Mehr-Augen-Prinzip bei der Einstufung. Dort sollen nicht nur Betroffene und Gutachter, sondern auch pflegende Angehörige und eine Diplompflegefachkraft anwesend sein, fordert sie: „Oft ergibt sich sonst eine Momentaufnahme, die keine Aussagekraft über den nötigen Aufwand zulässt.“ Gerade Demenzerkrankte würden sich bei der Einstufung häufig länger als aktiv und selbstbestimmt darstellen, als sie es sind. Die Folge: Kein Pflegegeld oder weniger, als gebraucht.
Pflegegeldeinstufung
46 Ärzte und Pflegefachkräfte sind in Vorarlberg als Gutachter zur Pflegegeldeinstufung zertifiziert (österreichweit: 1625).
7261 Mal wurden in Vorarlberg 2019 Pflegegeldgutachten erstellt (österreichweit: 198.860). Auf einen Gutachter kamen 2019 durchschnittlich 158 Gutachten (österreichweit: 122).
5 Prozent der Einstufungen werden laut Pensionsversicherungsanstalt beeinsprucht. Etwa die Hälfte davon wird bestätigt.