Quod licet Iovi

Politik / 27.05.2020 • 21:55 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Es war der Lieblingsspruch unseres Lateinprofessors, Oberstudienrat K.: „Quod licet iovi not licet bovi“ – was Jupiter erlaubt ist, ist noch lange nicht jedem Ochsen gestattet. Nie war diese Sentenz angebrachter als in diesen Tagen. Jupiter Nr.1, alias Staatsoberhaupt Van der Bellen wird 18 Minuten nach Mitternacht (78 Minuten nach der Sperrstunde) in Begleitung seiner Ehefrau und mit zwei Freunden bei einer polizeilichen Routinekontrolle im Schanigarten eines Restaurants in der Wiener Innenstadt angetroffen. Jupiter Nr. 2: Kanzler Kurz, Kleinwalsertal. Den von seiner Regierung selbst verordneten Sicherheitsabstand ignorierend. Während im Van-der-Bellen-Intermezzo ein durchaus sympathisches Wiener Flair mitschwingt – Gemütlichkeit und Glaserl Wein lassen Uhrzeit und Gesetze vergessen – war die Regel-Übertretung des Regierungschefs in Vorarlberg schon etwas bedenklicher.

Doch was sich in Österreich ereignet hat, wirkt harmlos zu dem was sich gleichzeitig in Großbritannien ereignete. Hier ist der Starke Mann in Downing Street, Premier Johnsons Chefberater Dominic Cummings („Get Brexit done!“) rasch zum unbeliebtesten Mann der Nation avanciert, als er unmittelbar nach dem von der Regierung viel zu spät verordneten „Lockdown“ Hunderte von Meilen zu seinem privaten Landgut reiste und dann noch eine Spritztour zu einer abgelegenen Sehenswürdigkeit unternahm – mit der surrealen Ausrede, er wolle seine „Sehschärfe“ beim Autofahren testen. Cummings Arroganz gipfelte darin, dass er in dem – sonst nur dem Premier für außergewöhnliche Gelegenheiten vorbehaltenen Rosengarten von Downing Street 10 – eine Pressekonferenz voller fadenscheiniger Ausreden abhielt, zu der er auch noch über eine halbe Stunde zu spät kam. Die Nation ist empört: Während Großbritannien in Relation zur Bevölkerung die meisten Covid-Todesopfer der Welt verzeichnet, Millionen von Briten große Opfer bringen, zahlreiche Ärzte und Krankenschwestern wegen Mangel an Schutzkleidung gestorben sind und sehr viele Menschen darauf verzichten mussten, sterbende Angehörige ein letztes Mal zu sehen, unternimmt Cummings fröhlich Spritztouren durchs halbe Land. Vor einem Monat musste ausgerechnet die Chefin des schottischen Gesundheitswesens, Dr. Catherine Calderwood, zurücktreten, nachdem sie zwei unerlaubte Wochenend-Reisen in ihre Zweitresidenz unternommen hatte

Man denkt nicht nur an Jupiter und den Ochsen, sondern auch an Orwells „Animal Farm“: „Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere“. Die Epidemie hat nicht nur zahllose Todesopfer, sondern auch die Demokratie gefordert. Die Corona-Krise hat in kürzester Zeit zu einem bedenklichen Machtzuwachs des Staates geführt. Grundlegende Verfassungsbestimmungen – wie Versammlungsrecht, Eigentumsrecht, Religions- und Gewerbefreiheit – wurden aufgehoben. Die Bevölkerung hat sich selbst entmündigt und sich in keiner Weise dagegen gewehrt – im Gegenteil: Die Notmaßnahmen haben überwiegend Zustimmung erfahren, denn die verängstigte Bevölkerung verfiel in eine Art Schockstarre. Dass sich die Jupiters dieser Welt an die Regeln halten, die sie aufgestellt haben, ist nicht nur eine Frage des Anstands und der Prinzipien. Wenn der Bevölkerung vor Augen geführt wird, dass die Regierenden die von ihnen selbst formulierten Vorschriften schnöde missachten, brechen Disziplin und Opferbereitschaft rasch zusammen. In einer neuen Epidemie-Welle droht die allgemeine Gleichgültigkeit. Mit kaum kalkulierbaren Folgen.

„In einer neuen Epidemie-Welle droht die allgemeine Gleichgültigkeit.“

Charles E.
Ritterband

charles.ritterband@vn.at

Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).