Österreich & die Sucht: Es ist scheinheilig
Ursula Stenzel macht irgendetwas Diskussionswürdiges – und der übliche Stenzel-Effekt tritt in den Social Media automatisch ein: Witze auf Schenkelklopfer-Niveau, oft mit halblustigen Anspielungen auf den angeblichen Alkoholkonsum der 74-jährigen FPÖ-Politikerin. Anlass diesmal war die Ankündigung, dass die nicht amtsführende Stadträtin (ja, dieses Amt gibt es in Wien noch immer) bei der kommenden Wahl wieder für die FPÖ im Wahlkreis Wien-Zentrum antreten wird. Sich vor allem mit den problematischen politischen Aktionen Stenzels auseinanderzusetzen, wie ihrer Teilnahme an einer Kundgebung der rechtsextremem Identitären 2019, dürfte vielen zu langweilig sein. „Hahaha, die sauft!“ ist ja gleich eine viel profundere Kritik.
Völlig egal, ob Stenzel nun unter dem Einfluss von irgendetwas steht, wie so gerne gemutmaßt oder nicht, der Umgang mit der freiheitlichen Mandatarin zeigt jedenfalls auch, dass man in Österreich keinen adäquaten öffentlichen Umgang mit dem Thema Alkohol findet. Scheinheilig und verlogen, so geht das Land mit diesem Problem um.
Hauptsache Fassade
Trinken gehört zur heimischen Alltagskultur, wer nicht zu Geburtstagen mit den anderen anstoßen will, wird schief angeschaut (schwanger, trockener Alkoholiker, unsozial?). Selbst problematischer Alkoholkonsum ist gesellschaftlich akzeptiert – so lange man die Fassade irgendwie wahren kann. Gelingt das nicht mehr, folgt die soziale Ächtung je nach Status recht schnell. Viele Menschen des öffentlichen Lebens, auch aus dem Politikbetrieb, kämpfen mit Alkoholsucht, manche lassen sie in den diskreten Bereichen von Entzugskliniken behandeln. Dass sie nicht nur aus Spaß zu viel trinken, sondern ernsthaft krank sind, ist vielen gar nicht bewusst.
Trinken gehört zur heimischen Alltagskultur, wer nicht zu Geburtstagen mit den anderen anstoßen will, wird schief angeschaut.
Laut dem Drogenbericht 2019 gibt es zwar Rückgänge bei Alkoholkonsum, alkoholassoziierten Erkrankungen und Todesfällen im Land, dennoch stuft man den Konsum von 14 Prozent der Erwachsenen als problematisch ein. Fachleute fordern regelmäßig mehr Bewusstseinsbildung dafür, dass Alkohol auch ein großes Problem sein kann – sie bleiben ungehört. Fünf Prozent der Schüler und Schülerinnen von 14 bis 17 Jahren konsumieren so viel, dass sie längerfristig ein hohes Gesundheitsrisiko tragen.
Wir leben in einer Sucht-Gesellschaft. Die daraus resultierenden Nöte sollte man nicht verleugnen, sondern analysieren und die Betroffenen unterstützen. Und jene, die jeden Tag Stunden an ihren Mobiltelefonen hängen und mit ihren besonders gewagten oder aggressiven Postings auf Twitter, Facebook und Co. nach möglichst viel Zustimmung und Anerkennung gieren, sollten sich zwischendurch selber analysieren: Was ist denn mit meinem eigenen Suchtverhalten?
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