Gesundheitsexperte Sprenger: “Ich wünsche mir eine Regierung, die uns wie mündige Bürger behandelt”

Mediziner kritisiert im VN-Webinar Gesundheitspolitik und Krisenkommunikation.
Rankweil, Graz Im Herbst und im Winter werde passieren, was immer passiere. Ein ganz normales Erkrankungsgeschehen, das uns angesichts der Coronakrise aber in den Wahnsinn treibe, sagt Mediziner Martin Sprenger, der einst Teil der Corona-Taskforce im Gesundheitsministerium war, diese aber unter anderem aus Protest gegen politische Inszenierung und Angstpolitik verlassen hatte. Und auch heute spart er nicht mit Kritik, wie das VN-Webinar zeigt.
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Die Corona-Ampel sorgte vor allem in den gelb eingestuften Gebieten umgehend für Kritik. Wie beurteilen Sie dieses Instrument?
Das Ampelsystem ist eine Form der Risikokommunikation. Man bewertet das Risiko nach bestimmten Kriterien. Ich finde das grundsätzlich gut. Es ist wichtig, dass das Instrument so transparent wie möglich ist. Aber die Ampel darf besser werden. Sie hat noch Entwicklungspotenzial.
Sollte ganz Österreich grün eingefärbt sein?
Das ist immer eine Frage der Kriterien. Ich sehe momentan keinen wesentlichen Unterschied zwischen Linz und Innsbruck. Warum das so eingestuft wurde, ist nicht offengelegt worden.
Ist es gewagt, die Dornbirner Herbstmesse zu veranstalten?
Es stellt sich die Frage, wie wir das Bedrohungspotenzial aktuell bewerten. Dazu gibt es ja die Corona-Ampel. Zwischen März und September 2020 liegen nicht nur Monate. Es hat sich viel verändert. Wir sind besser geworden, etwa bei der Eindämmung von Clustern oder der Behandlung der Intensivpatienten. Auch das Virus hat sich verändert, ebenso unser Immunsystem. Darauf weisen einige Publikationen hin. Das Bedrohungspotenzial im März im Vergleich zu heute ist um den Faktor zehn geringer geworden, gefühlsmäßig. Zur Messe: Ich bin Anfang April als falscher Experte bezeichnet worden, weil ich gesagt habe, dass das Infektionsrisiko im Freien bei einem Meter Abstand gering ist. Dazu stehe ich weiterhin. Auch wenn es ein Zelt gibt, kann man das Risiko mit viel Belüftung gut managen.
Bald fängt auch im Westen Österreichs die Schule an. Wie können wir uns den Herbst und Winter vorstellen? Ab wann muss man zu Hause bleiben und sich testen lassen? Ist jeder Husten ein Problem?
Die Antworten auf diese Fragen sollte Ihnen eigentlich die Gesundheitspolitik spätestens jetzt geben können. Für eine sachliche Risikokommunikation wären sechs Monate Zeit gewesen. Wir haben ein Kommunikationsdesaster, entstanden durch die Message Control. Was wird nun im Herbst und Winter sein? Das, was immer ist, seit wir begonnen haben, in Städten zusammenzuleben: Kinder werden krank werden, meistens harmlos. Manche Kinder haben den ganzen Winter über eine Rotznase. Nun wird uns das ganz normale Erkrankungsgeschehen aber in den Wahnsinn treiben, weil wir Kinder als extrem gefährlich wahrnehmen. Es wird einen gewaltigen Schaden anrichten. Will man eine Empfehlung machen, ist Fieber als Kriterium ganz gut. 37,5 Grad Celsius halte ich für gnadenlos, bei unter Zwölfjährigen würde ich 38,5 Grad vorschlagen.
Haben wir genug aus dieser Gesundheitskrise gelernt?
Es wäre toll, wenn wir als Gesellschaft lernen würden, solidarisch zu werden, und auch die ökologische und soziale Dimension der Krise nicht außer Acht lassen. Man sollte auch jenen Wertschätzung geben, welche die Gesellschaft am Laufen halten, etwa den 24-Stunden-Betreuerinnen, den Erntehelfern, den Supermarktkassierern. Aber mein dringendster Wunsch: Ich wünsche uns eine Regierung, die uns wie Erwachsene behandelt, wie mündige Bürger.
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