Staatliche Gesundheitsagentur: „Lockdown wäre unverantwortlich“

Politik / 14.10.2020 • 16:45 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Staatliche Gesundheitsagentur: „Lockdown wäre unverantwortlich“
Franz Allerberger, Leiter der Abteilung „Öffentliche Gesundheit“ bei der staatlichen Gesundheitsagentur AGES, rechnet damit, dass die Infektionszahlen noch um das Zwei- bis Dreifache steigen. APA

Franz Allerberger rechnet mit steigenden Infektionszahlen, appelliert aber, Augenmaß zu bewahren.

WIEN Franz Allerberger, Regierungsberater in der Coronakrise, wundert sich über Gerüchte, wonach es bald zu einem Lockdown kommen werde. Von Planungen dazu habe er nichts mitbekommen. Abgesehen davon wären die Kollateralschäden unverantwortlich hoch, wie er sagt. Die Infektionszahlen könnten noch zwei bis drei Mal größer werden. Covid-19 könne mittlerweile aber „ganz gut“ eingeschätzt werden. Die Quarantänezeit könnte auf sieben Tage verkürzt werden. Der Leiter der Abteilung „Öffentliche Gesundheit“ bei der staatlichen Gesundheitsagentur AGES appelliert, mit dem Virus leben zu lernen und durchaus auch die eine oder andere Reise zu unternehmen; dass bis zum nächsten Sommer eine Impfung kommen könnte, bezweifelt er.

Der ORF hat in einer „Zeit im Bild“ von Planungen für einen Lockdown Anfang November berichtet …

Ich habe davon nichts mitbekommen. Aber ich bin nur ein kleiner Berater in der „Task Force“ des Gesundheitsministers und Stellvertreter meiner Mitarbeiterin in die Ampelkommission.

Die Infektionszahlen sind jedoch stark gestiegen.

Ja. Wir sehen auch, dass wieder vermehrt Ältere betroffen sind. Seit April sind Clusterbildungen eher von Jüngeren ausgegangen. Für sie ist das Virus von der Sterblichkeit her relativ harmlos. Bei über 85-Jährigen ist das ganz anders, da reden wir von einer Sterblichkeit von bis zu 30 Prozent. Daher tun wir alle gut daran, sorgsam zu handeln. 

Ist es nicht verhängnisvoll im Hinblick auf den Winter, dass es schon jetzt so viele Neuinfektionen gibt?

Verhängnisvoll würde ich nicht sagen, weil es eigentlich nicht überraschend ist. Das Coronavirus ist wie ein klassisches Beatcoronavirus. Diese halten sich länger als Influenzaviren. Das ist eine schlechte Nachricht: Es bedeutet, dass wir den Gipfel noch nicht erreicht haben, sondern dass die Zahlen im November und Dezember noch ordentlich in die Höhe gehen könnten. Ich würde mit einem Faktor zwei bis drei rechnen.

Das wären bis zu 3000, 4000 Infektionen pro Tag.

Das würde ich nicht ausschließen. 

Andererseits soll die Dunkelziffer ja noch höher sein.

Ich würde für jeden bestätigten Fall maximal einen Faktor zehn dazurechnen. Also glaube ich, dass wir derzeit bei bis zu 500.000 stattgefundenen Infektionen halten. Die WHO glaubt, dass weltweit schon ein Zehntel der Bevölkerung Kontakt mit dem Coronavirus hatte. In Österreich wären das rund 900.000. Auf Basis einer Untersuchung zu Ischgl und Erfahrungen aus Wuhan und Bergamo gehen wir aber von einer Sterblichkeit von 0,25 Prozent aus und kämen so bei 864 offiziell gezählten Todesfällen auf eine Dunkelziffer von 340.000 stattgefundenen Infektionen. 

Zurück zur Eingangsfrage: Ist der Winter ohne Lockdown bewältigbar?

Aus meiner Sicht wären die Kollateralschäden bei einem Lockdown unverantwortlich hoch, angesichts einer Krankheit, die wir mittlerweile ganz gut einschätzen können. Um nicht missverstanden zu werden: Für ältere Menschen ist sie sehr gefährlich. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein Lockdown zum Beispiel auch zu einer höheren Arbeitslosigkeit führen würde und dass das ebenfalls Auswirkungen auf die Sterblichkeit hätte, die man nicht unterschätzen sollte. 

Das heißt, dass man Ältere schützen und alles vermeiden sollte, was zu Clusterbildungen führt? Also etwa gesellige Runden? 

Wobei man vorsichtig sein sollte: Gerade auch im Sinne der Jungen muss man Restrisiken zulassen. Zu glauben, dass es in den nächsten Monaten keine fröhlichen Hochzeiten mehr geben darf, wäre absurd. 

Ist das Entscheidende für ein Leben mit Corona Risikoabwägung? Also laute Partys in stickigen Räumen unterlassen und andererseits sehen, dass zum Beispiel eine Busfahrt möglich ist?

Ja, genau das muss man der Bevölkerung rüberbringen. 

Was ist angesichts der gestiegenen Infektionszahlenvon einer Reisewarnung für Vorarlberg zu halten?

Ich bin Public Health-Experte und wir haben gelernt, dass Reisewarnungen im Sinne von Grenzsperren nichts bringen. Vermeidbare Reisen zu unterlassen, ist etwas anderes. Aber auch hier ist eine Kosten-Nutzen-Analyse notwendig: Mit der Familie ein paar Tage wegzufahren, bleibt wichtig.  

Mit den steigenden Infektionszahlen müssen auch immer mehr Menschen in Quarantäne. Ist eine Verkürzung dieser Zeit von zehn Tagen möglich? 

Ich bin den Politikern dankbar, dass sie die Quarantäne schon von 14 auf zehn Tage runtergefahren haben. Untersuchungen von uns haben gezeigt, dass ab den ersten Krankheitssymptomen niemand länger als sieben Tage ansteckend ist. 

Also würden sieben Tage genügen?

In diese Richtung sollte man gehen, wenn sich die Infektionszahlen weiter so entwickeln. 

Wird es bis zum nächsten Sommer eine Impfung geben?

Als Infektiologe bin ich skeptisch. So etwas wie Messenger-RNA-Impfstoffe hatten wir Infektiologen noch nie. Das, worauf jetzt gesetzt wird, kommt aus der Onkologie, also der Krebsbehandlung. Da wird für jeden einzelnen Patienten ein Impfstoff gemacht. Aber ich lasse mich gerne überraschen, es gibt Leute, die sagen, dass es bald soweit sein wird. 

Fix davon ausgehen sollte man demnach nicht?

Das wäre weltfremd.