Migrationsexperte Knaus: “Moria ist sicher Sinnbild des Scheiterns”

Politik / 28.10.2020 • 14:00 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
Migrationsexperte Knaus: "Moria ist sicher Sinnbild des Scheiterns"
Im VN-Interview via Zoom spricht Gerald Knaus über seine Vorschläge für eine humane Asylpolitik.

Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) spricht über Situation an den EU-Außengrenzen und das Vorbild Kanada.

dornbirn Gerald Knaus, Vorsitzender der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), gilt als Architekt des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Kürzlich hat der Migrationsexperte das Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ veröffentlicht.

Steht das abgebrannte Lager Moria für eine gescheiterte europäische Flüchtlingspolitik?

Es ist ganz sicher das Sinnbild eines Scheiterns. Es ist aber ein Scheitern, das schon sehr lange absehbar war, vor dem oft gewarnt wurde und das sich fortsetzt. Wir haben derzeit auf anderen griechischen Inseln ebenso schlechte oder noch schlechtere Bedingungen. Wir haben eine unerträgliche Situation an der kroatisch-bosnischen Grenze, und wir haben eine unerträgliche Situation im zentralen Mittelmeer.

Warum ist das vier Jahre nach dem Abkommen mit der Türkei so?

Es gibt zwei diametrale Positionen unter den europäischen Regierungen, wie wir Kontrolle an der Außengrenze herstellen. Die eine Möglichkeit besteht darin, dass die ankommenden Menschen die Chance haben, einen Asylantrag zu stellen und ein Verfahren zu bekommen. Das ist ein Grundrecht. Jene, die Schutz brauchen, dürfen bleiben. Andere werden zurückgeschickt. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Menschen schlecht zu behandeln. Das ist eine Strategie der Abschreckung. Und jetzt müssen wir uns fragen: Arbeiten wir an Einigungen mit anderen Ländern wie der Türkei, denen wir helfen, weil sie viele Flüchtlinge aufgenommen haben? Oder geben wir die Flüchtlingskonvention auf, indem wir auf Abschreckung durch katastrophale menschenunwürdige Behandlung setzen?

Einige Vorarlberger Bürgermeister wollen Menschen aus Lesbos aufnehmen. Der Außenminister spricht aber von einem „Pull-Effekt“.

Mit dem Begriff kann ich nichts anfangen. Wenn ein junger Gambier sieht, wie Bekannte Bilder aus Rom oder Berlin in sozialen Netzwerken posten, oder wenn Syrer in der Türkei wie 2015 mitbekommen, dass zahlreiche Menschen Griechenland erreichen, den Balkan durchqueren und in Deutschland willkommen geheißen werden, machen sie sich natürlich auf den Weg. Umgekehrt ist es aber nicht wahr, dass sich mehr Menschen auf den Weg machen, wenn wir Schutzbedürftige vom griechischen Festland aufnehmen, weil sie dort schlecht versorgt sind.

Wie sollte die EU vorgehen?

Wir bräuchten ein System gezielter Neuansiedlungen mit Patenschaften wie in Kanada, wo Gemeinden, Bürger, Kirchen, Städte, Vereine, die ein Jahr lang Verantwortung für Menschen übernehmen wollen, das auch tun können. Die Regierung könnte jedes Jahr eine bestimmte Anzahl anbieten, die man aufnehmen könnte. In Kanada sind es 0,05 Prozent der Bevölkerung, die über Patenschaften ins Land kommen. Die Regierung prüft, ob es sich um Schutzbedürftige handelt, macht einen Gesundheitstest und eine Sicherheitsüberprüfung. Dieses System würde der Empathie der Menschen in Vorarlberg und Österreich Rechnung tragen. Ein EU-Fonds könnte das finanziell unterstützen. Drei Pfeiler sind wichtig: Neben der Aufnahme von Schutzbedürftigen schnellere Verfahren und Rückführungen von jenen, die keinen Schutz brauchen, sowie ein besseres Unterstützungssystem für Schutzbedürftige in Erstaufnahmeländern.

Kann man mit Libyen eine Verständigung wie mit der Türkei finden?

In Libyen haben wir keinen Partner. Die Regierung kann und will Menschenrechte im ganzen Territorium nicht garantieren. Mit Tunesien und Marokko könnte man aber Einigungen erzielen, ebenso mit einigen Hauptherkunftsländern. Staaten könnten Koalitionen bilden, gemeinsam auftreten und Angebote für eine faire Kooperation machen. Das führt dazu, dass wir in der Lage sind, Ausreisepflichtige sofort abzuschieben.

Ist es überhaupt möglich, skeptische Länder zur Aufnahme von Menschen zu zwingen?

Ich glaube, dass wir in Europa Solidarität brauchen. Aber diese lässt sich auch anders herstellen, durch einen europäischen Fonds, in den alle einzahlen. Jene Länder, in denen die Bevölkerung dazu bereit ist, Menschen aufzunehmen und die Regierung die Möglichkeit bietet, sich zu engagieren, bekommen aus diesem Fonds einen Beitrag für die Integration. Das wäre Solidarität, die realistisch und sinnvoll wäre.

Gerald Knaus

.. geboren 1970 in Bramberg (Salzburg), ist Gründungsdirektor der Denkfrabik European Stability Initiative (ESI) mit Sitz in Berlin. Der Experte mit Bregenzerwälder Wurzeln hat Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel und Bologna studiert. Er berät Regierungen und Institutionen in Europa zum Thema Flucht und Migration.

“Welche Grenzen brauchen wir” von Gerald Knaus ist im Piper Verlag erschienen, ca. 330 Seiten