Gefährliches Vorbild
Trump, Brexit, Corona: eine explosive Mischung. Am Mittwoch wurde der Machtwechsel im Weißen Haus vollzogen – das düsterste Kapitel der amerikanischen Geschichte seit dem Bürgerkrieg ist damit zu Ende gegangen, mit der Angelobung Bidens wird eine neue Seite aufgeschlagen. Alles gut? Die während Trumps Präsidentschaft der Nation zugefügten Wunden schwären weiter, die vertiefte Spaltung und die Gewalt verschwinden nicht von heute auf morgen. Vergleichbar mit 9/11 wird auch 1/6 als schwarzes Datum in die Geschichte der USA eingehen. Der Anschlag vom 9. September 2001 auf die beiden Türme des World Trade Center, diese stolzen Monumente des Kapitalismus im Herzen von New York, hat Amerika traumatisiert. Und der Anschlag auf die Demokratie am 6. Jänner, als ein gewalttätiger Mob ins Herz der amerikanischen Demokratie eindrang und drohte, die beiden nach dem Präsidenten ranghöchsten Politiker der USA umzubringen – Vizepräsident Mike Pence und Nancy Pelosi die Sprecherin des Repräsentantenhauses – wird ein neues Trauma auslösen.
In Großbritannien haben diese Ereignisse ganz anders Wirkung gezeigt: Konservative Spitzenpolitiker beeilen sich, ihre Trump-Begeisterung unter den Teppich zu kehren. Premierminister Johnson hatte wie auch andere führende „Brexiteers“ auf die transatlantische Allianz als Alternative zur EU-Mitgliedschaft gesetzt. Vize-Premier Michael Gove bezeichnete Trump als „warmen und großherzigen Freund“, der in der „Anglosphäre“ eine geopolitische Heimat für Großbritannien außerhalb der EU garantieren werde. Selbst Steve Bannon gehörte zum politischen Freundeskreis Johnsons. Als der britische Botschafter in Washington, Sir Kim Darroch, in einem offenbar vom amerikanischen Geheimdienst aufgefangenen Bericht nach London Trump als „instabil“ bezeichnete, ließ Johnson den Botschafter auf Trumps Wunsch flugs entfernen.
In Österreich marschierten am letzten Wochenende zehntausend sogenannte Corona-Leugner (einschließlich HC Strache) unter Missachtung sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen durch Wien. Dass die Corona-Protestszene massiv von Rechtsradikalen und Neonazis unterwandert ist, gilt als Tatsache. Während der Demonstration wurden offenbar Aufrufe zum Sturm aufs Parlament und zur Absetzung von Bundespräsident Van der Bellen laut. Dummheit, Gewaltbereitschaft und demonstrativ-aggressive Rücksichtslosigkeit erinnern an die Vorgänge in Washington. Hat jener Anschlag auf die amerikanische Demokratie in Österreich eifrige Nachahmer gefunden? Eine extrem besorgniserregende Tendenz.
„Hat der Anschlag auf die amerikanische Demokratie Nachahmer in Österreich?“
Charles E.
Ritterband
charles.ritterband@vn.at
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).