Tod eines Nationalhelden
Am Dienstag ist, hundertjährig, „Captain Tom“ gestorben, betrauert von der gesamten Nation. Er, der dem Nationalen Gesundheitsdienst NHS auf höchst originelle Weise Spendengelder in Millionenhöhe zufließen ließ, war nun selbst an Covid-19 erkrankt. Denn Sir Tom Moore, der Mann mit dem Rollator, von der Queen zum Ritter geschlagen, war eine lebende Legende, ein Nationalheld – beliebter vielleicht gar als die Queen selbst. Premierminister Boris Johnson ließ den Union Jack vor seinem Amtssitz in Downing Street auf Halbmast setzen. Denn Sir Tom verkörperte England wie kein Zweiter. Skurrilität und Schrulligkeit und vor allem „Charity“, Wohltätigkeit, ist auf den britischen Inseln mehr als eine nationale Tugend.
Am 5. April letzten Jahres hatte der Veteran des 2. Weltkriegs im Rang eines Hauptmanns eine unkonventionelle Idee: Er marschierte, angetan mit blauem Blazer, auf dem fünf Tapferkeitsorden aus dem Krieg prangten, über seinen Rollator gebeugt, durch den 25 Meter langen Garten seiner Tochter in Bedfordshire. Zehn Runden täglich, 100 insgesamt, waren das Pensum des fast Hundertjährigen. Mit seinen Gartenrunden wollte der zähe „Yorkshireman“ Spendengelder generieren – 1000 Pfund Sterling waren die anvisierte Zielgröße. Daraus wurden am Ende 39 Millionen Pfund (44 Millionen Euro). Captain Tom kam rasch ins Guinness-Buch der Rekorde, er sang auf einer Single mit dem sinnigen Titel „You’ll Never Walk Alone“, die umgehend auf den ersten Platz der Hitparade katapultiert wurde.
Dahinter steckt nicht nur die Bewunderung für den wunderbaren alten Mann – sondern auch die Verehrung des NHS: Laut Umfragen steht der NHS ganz oben auf der Liste der Dinge, welche dem Herzen der Briten am nächsten stehen. Jeden Donnerstagabend traten sie an die Fenster und vor ihre Haustüren, um mit Applaus und Pfannendeckeln lautstark dem oft todesmutigen, total überforderten NHS-Personal für seinen Einsatz in der Covid-Krise zu danken. Überall tauchten Banner und Plakate auf: „Thank you NHS!“ Auch der konservative Premier Johnson sang dessen Loblied, als er an Covid erkrankte – und vom NHS gerettet wurde. Doch es war eine Labour-Regierung unter Premier Clement Attlee, der 1948 das weltweit erste direkt aus Steuergeldern finanzierte Gesundheitswesen schuf, in dem sich alle Bürger kostenlos behandeln lassen können. Und so rührend die Verehrung der Briten für „Captain Tom“ auch sein mag – dass nicht die Regierung, sondern ein Hundertjähriger mit Rollator dem schwerkranken Gesundheitsdienst mit Millionen unter die Arme greift, ist eigentlich eine nationale Schande.
„Der Premier nannte ihn einen Held und setzte die Flagge auf Halbmast.“
Charles E.
Ritterband
charles.ritterband@vn.at
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).