„Letzter Tango“ mit Brüssel

Türkische EU-Avancen stehen auf schwankendem Boden.
ankara Gräuelmeldungen von Geiselmorden der in den Nordirak ausgewichenen PKK-Partisanen dominieren die türkischen Medien. Die Entrüstung darüber in EU und USA wird groß herausgestellt. Auch damit soll der jüngste Einfall im Nachbarland gerechtfertigt werden. Die Iraker selbst zeigen sich aber mit den Verletzungen ihrer Souveränität durch die Türken ungehalten. Aus den schiitischen Volksmilizen Haschd al-Schabi wird die Drohung laut, wie einst die Terrormiliz Islamischer Staat so auch jetzt die Invasoren Ankaras zu verjagen, wenn die Regierung in Bagdad diese weiter duldet.
Für die neuen Avancen von Recep Tayyip Erdogan an die EU bedeutet die türkische Truppenpräsenz im Irak ebenso wie jene in Syrien und Libyen zweifellos einen Stolperstein. Dazu kommen Studentenunruhen in Istanbul. Dort hat Erdogan an der Bosporus Universität, letzter Hochburg akademischer Freiheit in der Türkei, durch eigenmächtiges Auswechseln des Rektors heftige Proteste ausgelöst. Sie richten sich inzwischen gegen den autoritären Stil des Präsidenten überhaupt. An dem ehemaligen, 1971 verstaatlichten „Robert College“ ist eben immer noch der Geist des deutschen Demokraten Friedrich Schrader lebendig, der dort Soziologie gelehrt hatte.
Gegen Wiedervereinigung
Inzwischen steht die türkische Rückwendung zur EU als finanziell-wirtschaftlicher Bittsteller weiter unter dem Motto „Brüssel braucht Ankara, sonst bleibt die Europäische Union Blendwerk“. Mit dieser Überheblichkeit ist es unvereinbar, wenn Erdogan auf dem seit 2004 zur EU gehörenden Zypern jetzt jede Wiedervereinigung, nicht einmal als Konföderation, ablehnt. Er will den seit 1974 türkisch besetzten Norden völlig eigenstaatlich machen, um ihn dann früher oder später wohl zur Türkei zu schlagen. Auch nach EU-Inseln Griechenlands in der Ägäis streckt die Türkei die Finger aus.
Der amerikanische Türkei-Experte Nicholas Danforth sieht daher in den neuen türkischen Beteuerungen von EU-Sehnsucht nur einen „letzten Tango“ Erdogans mit Brüssel. Auch die USA würden nun bald unter Präsident Joe Biden anstelle von Trumps „Streicheleinheiten“ zur Besänftigung der Türkei die nötige Härte zeigen.
Neue Verfassung
Erdogan selbst scheint keine Hilfe von außen mehr zu erwarten. Sein letztes Rezept für politisches Überleben lautet: neue Verfassung. Mit noch mehr Vollmachten als er dank der Präsidialkonstitution von 2017 ohnedies schon hat. Weitere Änderungen in Richtung Alleinherrschaft sollen nun seine Macht bis ans Lebensende einzementieren.
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