Vierte Wahl in zwei Jahren

Israel wählt ein neues Parlament. Ob Netanjahu erneut Regierungschef werden kann, ist offen.
tel aviv Häufig hat er in seinem Leben noch nicht gewählt. „Vielleicht zwei Mal“, sagt Or, Fitnesstrainer aus Tel Aviv. Möglichkeiten dafür hätte der 31-Jährige mehr als doppelt so viele gehabt, doch inzwischen ist er wahlmüde. Nach Berechnungen des Israel Democracy Institute (IDI) waren die Abstände zwischen Parlamentswahlen in keinem Land in den vergangenen 25 Jahren kürzer als hier.
Heute, am Dienstag, steht wieder eine Parlamentswahl an – die vierte binnen zwei Jahren. Nötig ist sie, weil das unter dem Druck der Coronakrise geschlossene Bündnis zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinem Rivalen Benny Gantz nach wenigen Monaten zerbrochen war. Netanjahu und sein rechtskonservativer Likud dürften wieder stärkste Kraft werden. Doch ob der 71-Jährige eine Koalition formen und erneut Regierungschef werden kann, ist ungewiss.
Rasante Impfkampagne
Netanjahu – Spitzname Bibi – ist seit 2009 durchgängig Ministerpräsident. Im Wahlkampf setzt er vor allem auf außenpolitische Erfolge wie die Annäherung an arabische Golfstaaten – und auf die rasante Impfkampagne. Netanjahu will, dass Israel als erster Staat die Coronakrise hinter sich lässt. Die Chancen dafür stehen gut. Und dennoch könnte der Likud laut Umfragen Sitze im Parlament verlieren. Hierfür gibt es mehrere Gründe: So läuft gegen Netanjahu ein Prozess. Als erster amtierender Ministerpräsident Israels muss er sich vor Gericht gegen Korruptionsvorwürfe wehren. Seit dem Sommer gibt es jeden Samstag Proteste gegen ihn. Mit einer Rechtskoalition könnte Netanjahu versuchen, eine Verurteilung zu verhindern. Viele hadern zudem mit seinem Kurs während der Coronakrise: Die täglichen Infektionszahlen lagen 2020 über denen in vielen anderen Ländern, die Lockdown-Phasen waren sehr lang, viele Menschen verloren ihre Jobs. Auch wurde Netanjahu von säkularen Israelis zu viel Rücksichtnahme auf die Ultraorthodoxen vorgeworfen.
Umfragen zufolge wurden Gantz und sein Bündnis Blau-Weiß in der Koalition nahezu zerrieben, der Einzug in die Knesset ist unsicher. Damit steht Netanjahu aus dem Mitte-Links-Lager vor allem die Zukunftspartei und deren Vorsitzender Jair Lapid gegenüber. Bedeutend ist zudem, dass ihm im rechten Lager starke Rivalen erwachsen sind. Politiker wie Gideon Saar wollen Netanjahu ablösen. Angekreidet wird Bibi von rechts unter anderem der vorläufige Verzicht auf Annexionen im Westjordanland für die Annäherung an die Golfstaaten. Zur Abstimmung aufgerufen sind etwa 6,6 Millionen Menschen. Etwa ein Dutzend Parteien hat die Chance, den Einzug in die 120 Sitze umfassende Knesset zu schaffen.