Van der Bellen: „Es war nicht leicht auszuhalten”

Jahrzehnte wurden versäumt, sagt Van der Bellen zur Klimakrise. Kritik äußert er auch an Finanzminister Blümel.
Wien Manchmal war es für Bundespräsident Alexander Van der Bellen nicht einfach auszuhalten, wie er im VN-Interview sagt. Man habe 30 bis 40 Jahre im Klimaschutz versäumt, könne aber noch schlimmeres verhindern. Den Aufschrei über die Evaluierung geplanter Straßenbauprojekte der Asfinag versteht er nicht. „Es sollte sich niemand wundern, wenn Verkehrsministerin Leonore Gewessler fragt, ob die Prioritäten möglichweise anders zu setzen sind.“ Sein Befremden äußert der Bundespräsident auch zu den Erkenntnissen aus dem Ibiza-U-Ausschuss, auch zu den Aktenlieferungen. „Ich verstehe nicht ganz, warum Finanzminister Gernot Blümel so zögerlich war.“ Er hätte allen viel Aufregung ersparen können. Lob findet Van der Bellen hingegen für Justizministerin Alma Zadic, die sich gegen innerkoalitonäre Widerstände durchsetzen konnte. Auf die Frage, ob eine Gesamtänderung der Bundesverfassung zu weit ginge, um in Vorarlberg wieder gegen den Willen einer Gemeindevertretung eine Volksabstimmung initiieren zu können sagt er: „Ich habe mit Interesse festgestellt, dass Vorarlberg in manchen Dingen ganz andere Regeln hat, als der Rest Österreichs.“ Man könne also lokale und regionale Ausnahmen machen, wenn es eine gewisse Geschichte und Tradition hat. Österreichweit empfindet er die Vorgaben für Volksabstimmung aber für richtig.
Wie geht es Ihnen als Politiker, der seit Jahrzehnten vor den Gefahren der Klimakrise warnt und nun sieht, wie sich die Unwetterkatastrophen häufen?
Zwischendurch war es nicht leicht auszuhalten. Denn wir haben 30, 40 Jahre versäumt. Aber wir haben immer noch die Chance, das Schlimmste zu verhindern. Da bin ich optimistisch. Die Stimmung hat sich in den vergangenen drei bis fünf Jahren komplett gewandelt. Allerdings kam vonseiten der Jugend und ganz Jungen sowie von der Wirtschaft viel mehr Engagement, Energie und Nervosität, als vonseiten der Politik. In gewissen Wirtschaftszweigen wurde auch erkannt, dass sich die Risiken auf dem Markt ändern. Denken Sie etwa an das Bankgeschäft: Wenn ein Kunde einen Kredit von 100 Millionen Euro möchte, wird zuerst auf den Sektor geachtet. Werden diese 100 Millionen Euro in zehn Jahren noch nachhaltig investiert sein oder sind sie verlorenes Geld?
Klimaschutzministerin Leonore Gewessler lässt Asfinag-Projekte wie die S18 auf genau diese Fragen überprüfen. Wie ernst nehmen unsere Politikerinnen und Politiker den Klimawandel, wenn das für einen Aufschrei sorgt?
Es sollte sich wirklich niemand wundern, wenn die für Klimaschutz verantwortliche Ministerin überlegt, welche Straßenbauprojekte in dieser Situation noch angemessen sind. Und wenn sie sich fragt, ob die Prioritäten möglichweise anders zu setzen sind. Der Verkehr ist nun einmal jener Sektor, in dem die Treibhausgasemissionen in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten gestiegen ist.
Sehen Sie seitens der Politik zu viel Lippenbekenntnisse für den Klimaschutz oder bringt die grüne Regierungsbeteiligung nun eine Kehrtwende?
Ich glaube, dass die Regierungen weltweit, aber vor allem in Europa, auf die Situation reagieren, fast unabhängig davon, ob Grüne in der Regierung sind oder nicht. Das ist kein Grünes Hobby, sondern die Grünen waren wohl die ersten, die das Problem in seiner ganzen Dimension erkannt haben. Die Grünen haben vor rund 20 Jahren zum Beispiel ein Energiesteuerprogramm vorgestellt: Während der Preis für das, was mit Treibhausgasemissionen verknüpft ist, über die Zeit steigen muss, müssen die Steuern auf Arbeit sinken. Für bestimmte Pendlergruppen könnte man sich auch noch etwas überlegen. Die Idee ist nicht neu …
… und steht nun im Regierungsprogramm. Wie geht es Ihnen abseits dessen mit der Bundesregierung?
Als Bundespräsident versuche ich da vollkommen neutral zu sein.
Sie haben aber eine viel beachtete Ansprache gehalten, in der Sie mehr Respekt gegenüber den Institutionen eingefordert haben. Diese war vor allem an die ÖVP gerichtet, die sich mit der Justiz angelegt hatte. Hat man Ihren Appell zu wenig gehört?
Es ist immer eine Abwägungsfrage, ob und wann man etwas sagt. Ich will ja nicht der Oberlehrer oder Oberbelehrer der Nation sein. Ich glaube aber, dass die meisten nun verstanden haben, dass es in solchen Situationen um mehr als nur den kurzfristigen, politischen Ausbruch geht. Der Respekt vor der Justiz ist unabdingbar. Sie muss ungehindert arbeiten können. Ich verstehe nicht ganz, warum Finanzminister Gernot Blümel so zögerlich mit der Aktenlieferung an den U-Ausschuss war. Ich verstehe nicht ganz, warum ich gezwungen war, über den Umweg des Auftrags des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) eine Exekution durchzuführen. Das hätte man auch mit weniger Aufsehen und dem gleichen Ergebnis durchführen können.
Wie bewerten Sie all das im Nachhinein?
Unterm Strich: Es waren die üblichen politischen Auseinandersetzungen, wenn man die Nebengeräusche außer Acht lässt: Es ist die Aufgabe der Opposition, zu versuchen, die Regierung zu kontrollieren. Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder Minister damit seine Freude hat, sondern es als Behinderung empfindet.
Haben die Ergebnisse des Ibiza-U-Ausschusses Sie überrascht oder waren Sie erschrocken?
Ich war weder erschrocken noch sonderlich überrascht, aber im Einzelnen schon befremdet. Die Chatverläufe habe ich nicht so ernst genommen. Sie waren peinlich, aber strafrechtlich im Wesentlichen irrelevant. Die Entscheidungen der Justizministerin haben mich hingegen sehr beeindruckt. Sie hat die Sektion für Legistik wieder von jener der einzelnen Strafrechtsfälle getrennt. Das hat ihr innerkoalitionär erhebliche Widerstände gebracht.
Weil es vor allem um den damals hohen Justizbeamten Christian Pilnacek ging.
Meiner Meinung nach war es die richtige Entscheidung.
Sollte man auf das moralische Empfinden des Einzelnen vertrauen oder braucht es in gewissen Bereichen strengere Regeln?
Jeder sollte sich überlegen: Kann ich das, was ich mache, mit guten Gründen nach außen vertreten oder ist es so heikel, dass es geheim bleiben muss? Dann sollte ich es lieber bleiben lassen. Das ist doch offenkundig. Aber wie die Erfahrung zeigt, ist es nicht offenkundig genug. Es geht auch darum, Versuchungen zu widerstehen. Als ich noch im Parlament war, bekam der Grüne Klub das Angebot von einer Interessensorganisation, einen Mitarbeiter gratis zur Verfügung zu stellen. Das haben die Grünen abgelehnt. Andere Klubs taten das nicht. Jeder muss für sich entscheiden, was politisch, juristisch und moralisch vertretbar ist. Darüber müssen die Öffentlichkeit und vor allem Sie als Vertreterin unabhängiger Medien wachen.
Der Verfassungsgerichtshof hat soeben eine Bestimmung in Vorarlberg gekippt, dass eine Volksabstimmung nicht gegen den Willen der Gemeindevertretung initiiert werden kann. Soll die direkte Demokratie immer nur ergänzend zur repräsentativen gesehen werden?
Wir haben im Kern eine repräsentative Demokratie. Der Wille des Volkes wird durch die gewählten Parlamentarier repräsentiert. Das schließt nicht aus, dass man vor allem auf lokaler und regionaler Ebene bestimmte Projekte über Befragungen und Volksabstimmungen absichern kann. Das halte ich auch für vernünftig.
Es bräuchte eine Gesamtänderung der Bundesverfassung, um dies in Vorarlberg auch wieder gegen den Willen einer Gemeindevertretung tun zu können. Ginge das zu weit?
Ich habe mit Interesse festgestellt, dass Vorarlberg in manchen Dingen ganz andere Regeln hat als der Rest Österreichs, zum Beispiel auch, was die Vor-Auswahl von Bürgermeisterkandidatinnen und -kandidaten in manchen Gemeinden betrifft. Man kann also lokale, regionale Ausnahmen machen, wenn es eine gewisse Geschichte und Tradition hat. Österreichweit kann eine richtige Volksabstimmung aber nur über ein Gesetz gemacht werden und ich finde das auch richtig.
Werden Sie für eine zweite Amtszeit kandidieren?
Die Wahlen sind voraussichtlich im Oktober 2022. Ich werde meine Entscheidung rechtzeitig bekannt geben.