Zwischen Freiheit und Chaos

In der “Tube” gilt Maskenpflicht.
Ungewissheit nach dem Ende der Coronamaßnahmen in England.
london Das Experiment läuft. Nacht für Nacht brummen in den englischen Clubs die Bässe, auf Straßen und an den Stränden tummeln sich in der Sommerhitze die Menschen in großen Trauben, dicht gedrängt. Selbst in der Londoner Hauptstadtblase aus Politik und Medien treffen sich die Leute wieder auf Partys. Nach der Aufhebung fast aller Coronaregeln am Montag erlebt England seine erste Woche in Freiheit.
Hoffen auf Impfung
Dass die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus die Infektionszahlen weiter in die Höhe schnellen lässt, wird so weit wie möglich ausgeblendet. „Wann, wenn nicht jetzt?“, ist Premier Boris Johnsons neue Freiheitsparole. Der Schutz der Impfungen werde das Schlimmste schon verhindern. Dass die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien zuletzt auf 488 (Stand: 17. Juli) kletterte und Experten Tag für Tag trotz hoher Impfquote vor zahlreichen Todesopfern, Millionen Menschen mit Langzeitschäden und gefährlichen neuen Mutationen warnen – geschenkt.
„Wir waren so lange im Lockdown. Lasst es uns jetzt versuchen“, sagt der Pensionist Alan Adams, der an einem sonnigen Nachmittag mit einem alten Schulfreund durch die Brick Lane im Londoner Osten spaziert. „Wir hatten zwei Injektionen. Also sollten wir okay sein“, meint er. Sein Freund David Conlon ist nicht ganz so überzeugt: „Das hoffen wir zumindest“, wirft er ein – und ärgert sich, dass in der Londoner U-Bahn so viele keine Maske mehr tragen. Da dort Bürgermeister Sadiq Khan das Sagen hat, ist die „Tube“ eigentlich einer der wenigen Orte, an denen die Maske weiterhin Pflicht ist. Nur halten sich nicht alle daran. So schlägt in England die Stunde der Eigenverantwortung. Wo vor wenigen Tagen noch gesetzliche Regeln das Zusammenleben steuerten, muss jetzt jeder Einzelne entscheiden, wie viel Risiko er oder sie eingehen will – und das eben meist nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere.
1,7 Millionen Briten betroffen
Dass das Konzept der großen englischen Freiheit inmitten einer heftigen dritten Welle nicht so recht aufgehen will, zeigte sich bereits am ersten Tag: Nach einer Sitzung mit seinem infizierten Gesundheitsminister sprach Boris Johnson am großen „Freedom Day“ per Video aus der Quarantäne zu seinem Volk. Mit diesem Schicksal ist er nicht allein. Geschätzt müssen sich rund 1,7 Millionen Briten derzeit selbst isolieren, weil sie an Covid-19 erkrankt sind oder Kontakt zu Infizierten hatten. Dazu gehören mit dem Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak nicht nur weitere Vertreter der Regierungsbank, sondern auch große Teile der Belegschaften von Supermärkten, Logistikfirmen, Pflegeeinrichtungen oder Müllabfuhren – also allen, die das Leben eigentlich am Laufen halten sollten.
Supermarktregale leeren sich und können nicht schnell genug wieder aufgefüllt werden. Mülltonnen bleiben voll vor der Tür stehen. Pubs müssen schließen, weil niemand hinter dem Zapfhahn steht. Eiligst führte die Regierung eine Ausnahmeregelung für Mitarbeiter im Lebensmittelhandel ein. Doch es gibt Zweifel, ob das ausreichen wird, die Engpässe zu vermeiden. Wird es also ein „Sommer des Chaos“, wie Oppositionsführer Keir Starmer warnte? Oder ein „Great British Summer“, wie ihn die regierenden Tory-Minister gern beschwören? In diesen Juli-Tagen scheint beides fast parallel zu existieren. Die 26-jährige Kelsey, die mit einer Freundin über einen Londoner Street-Food-Markt schlendert, macht sich bisher keine Sorgen – obwohl sie im Krankenhaus arbeitet und die Zahl der Fälle steigt. „Vielleicht muss man der Realität in ein, zwei Wochen wieder ins Auge sehen. Aber jetzt noch nicht.“

Sunak und Johnson sind in Quarantäne.
