Schlepperkriminalität: „Die Migranten sind in ihren Verstecken gefangen“

Brigadier Gerald Tatzgern spricht mit den VN über Schlepperkriminalität, die zunehmenden Aufgriffe und die Gefährdung von Flüchtlingen.
Wien Ein Migrationsstrom wie 2015 sei nicht zu erwarten, sagt Gerald Tatzgern vom Bundeskriminalamt, wo er die Zentralstelle zur Bekämpfung von Schlepperkriminalität leitet. Der Druck entstehe derzeit eher innerhalb Europas. 60.000, 70.000 Migranten und Flüchtlinge würden sich hier aufhalten, die nun langsam weiterziehen, unter anderem auch, weil die Versorgung schlecht sei. Die Schlepperkriminalität nehme deutlich zu. Häufig würden Menschen in sehr schlechtem Zustand in ihren Verstecken gefunden, dehydriert oder gar ohnmächtig.
Wie beurteilen Sie die Lage an den EU-Außengrenzen?
Der Zustrom nach Griechenland ist nach wie vor sehr gering, obwohl der Migrationsdruck in der Türkei gleichbleibend hoch ist. Am Balkan selbst und speziell in Griechenland sehen wir allerdings, dass sich immer mehr Migranten auch mit Hilfe von Schleppergruppierungen in Bewegung setzen. In der Region halten sich derzeit 60.000 bis 70.000 Migranten auf. Die beliebtesten Zielländer sind vor allem Deutschland und Frankreich, aber auch Österreich spielt eine Rolle. Es handelt sich vorwiegend um Männer, die die Geduld verlieren und am Westbalkan nicht weiter stecken bleiben wollen. Natürlich gibt es aber auch Frauen und Kinder, die weiterziehen.
Ziehen sie weiter, weil die Versorgung schlecht ist? Die Zustände in Griechenland sind ja bekannt.
Ja, das würde ich so unterschreiben. Wir kennen Fälle aus Bosnien-Herzegowina, wo die Versorgung gekappt wurde, um die Leute weiter zu drängen. Ähnlich ist es in Griechenland. Viele Migranten haben sich bei Befragungen auch sehr negativ darüber geäußert.
Das heißt, die zunehmenden Aufgriffe und Asylanträge betreffen eigentlich Menschen, die sich bereits in Europa befinden?
Ja, der Druck entsteht innerhalb Europas. Ich persönlich glaube aber nicht, dass es zu einem Migrationsstrom wie 2015 kommen wird, weil die einzelnen Staaten entlang der Schlepperrouten sehr wohl etwas tun. Die Strategie der offenen Grenzen gibt es nicht mehr. Auch bei Recherchen im Hintergrund gibt es derzeit keine Hinweise für einen Aufruf zu einem „Marsch auf Europa“. So ein Aufruf aus Drittstaaten kann aber immer rasch entstehen.
Die Balkanroute ist aber nicht geschlossen?
Doch. Wenn ich aber davon spreche, dass die Balkanroute geschlossen ist, verstehe ich darunter, dass die einzelnen Balkanstaaten etwas dafür tun, die Schlepperei und irreguläre Migration zu bekämpfen. Das ist der Unterschied zu 2015, als sie sagten, wir lassen alle durch. Man kann die Zahl der Migranten nie auf null reduzieren, aber man kann versuchen, das kriminelle Geschäft der Schlepper möglichst zu stören.
Wie hat sich das während der Pandemie nun entwickelt?
Obwohl die Grenzen im Jahr 2020 durch die Coronamaßnahmen sehr dicht waren, sehen wir eindeutig mehr Schlepperaktivitäten, 2020 um 20 Prozent mehr als 2019, jetzt um 50 Prozent mehr als 2020.

Hat sich die Art der Fortbewegung geändert?
Als die Grenzen geschlossen waren, konnte der Güterverkehr weiterhin ungestört fließen. Da haben viele Schlepper Lastwagen verwendet. Jetzt spielen wieder Vans oder Kleintransporter eine größere Rolle.
Bedeutet eine Zunahme von Schlepperaktivitäten automatisch eine Zunahme von Migranten und Flüchtlingen?
Nicht eins zu eins. Es sind schon mehr Migranten unterwegs, aber nicht in dem Ausmaß. Was wir mittlerweile merken, ist, dass sich aus den eigenen Communities unter den Migranten Schlepper hervortun, weil sie so Geld verdienen wollen. Hier sprechen wir aber nicht nur von Fluchthelfern, manche wollen wirklich nur beinhartes Geld damit verdienen und nehmen ein hohes Risiko für die Migranten in Kauf. In den vergangenen Tagen haben wir zum Beispiel einen Kleinlastwagen mit 18 Menschen entdeckt, die zum Teil sehr dehydriert und teilweise schon ohnmächtig waren.
Sind alle Menschen, die Sie aufgreifen, in einem schlechten Zustand?
Es ist sehr unterschiedlich. Manche machen einen sehr gesunden Eindruck, bei anderen ist eine medizinische Erstversorgung dringend notwendig. Viele sind in Verstecken untergebracht und nicht mit ausreichend Wasser versorgt. Das wird an heißen Tagen mit über 30, 40 Grad sehr gefährlich.
Was ist unter einem Versteck zu verstehen?
Teilweise sind Kleintransporter mit Zwischenwänden oder einer doppelten Außenhaut ausgebaut, damit gewisse Detektoren nicht ansprechen. Dann gibt es auch kleinere Gruppen im Ladegut, wo sich einzelne Menschen im Styropor oder in Hohlräumen von Paletten verstecken. Lastwagen werden zum Beispiel auch von außen manipuliert, wo Migranten von oben hinter die Seitenplanen einsteigen. Erst wenn man diese aufschneidet, werden sie entdeckt. Vergessen Sie nicht: Die Menschen können da nicht alleine raus. Passiert was, sind sie dort gefangen.
Was zahlen die Flüchtlinge und Migranten denn für einen Schlepper?
Manche verlangen für einzelne Grenzen, etwa von Serbien nach Ungarn 150 bis 200 Euro pro Person, aber wenn ich von Bosnien oder Nordmazedonien komme, können es auch 1500 Euro pro Kopf sein. Von Griechenland über die Balkanroute kann es 3000 bis 4000 Euro kosten. Wenn man von außerhalb Europas kommt, noch mehr.
Bei den Asylanträgen sieht man, dass vor allem Syrer, Afghanen und Marokkaner dabei sind, deckt sich das mit den Aufgriffen?
Ja. Es sind aber auch viele Pakistani dabei, aktuell auch Leute aus dem Irak, türkische Kurden, Ägypter und Somalier. Dass wir auf der Balkanroute auch viele Marokkaner zählen, überrascht mich insofern, da Spanien eigentlich nur ein Sprünglein von Marokko entfernt wäre. Derzeit beobachten wir auch die Situation in Tunesien mit großer Sorgfalt. Viele, die lange in Libyen festsaßen, strömen nun dorthin, um die verwirrte Situation auszunutzen. Hunderte Migranten kommen derzeit aus Tunesien mit Schiffen Richtung Italien. Das beobachten wir sehr, da wir mit Italien 430 Kilometer Grenze teilen.
Aber man merkt noch nichts.
Nein. Sie bleiben wohl eine Zeit in Italien, bevor sie sich weiter in Bewegung setzen.
Wie sieht es generell an den Grenzübergängen zu Österreich aus?
Derzeit ist das Burgenland hauptbetroffen, eventuell noch das Dreiländereck Slowenien/Österreich/Ungarn. In den anderen südlichen Bundesländern machen wir aber auch immer wieder Schwerpunktaktionen. Aber aktuell muss ich sagen, dass vieles der Westbalkanroute über Slowenien nach Italien und weniger nach Österreich führt. Dort haben viele Frankreich oder sogar England als Zielland.
Aufgriffe und Asylanträge
Bis Ende Juli 2021 wurden bundesweit 16.300 Aufgriffe gezählt. Im gesamten vergangenen Jahr 21.700, 2019 rund 19.500. Der Großteil wird in Bereich der Ostgrenze verzeichnet. Es kommt auch wieder zu mehr Asylanträgen als im Vorjahr. Im ersten Halbjahr 2021 wurden 10.518 Anträge gestellt, 2020 waren es 14.775 und 2019 12.886. In den Jahren zuvor waren es 13.746 (2018), 24.735 (2017), 42.285 (2016) und 88.340 (2015). Anfang August dieses Jahres befanden sich in Vorarlberg 845 Asylwerber in Grundversorgung, österreichweit 25.189 (August 2020: 959 bzw. 27.148).
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