Die Welt der anderen
Ein Mann lässt die Frauen einfach verschwinden – schon am Sonntag übermalt ein Mann in der afghanischen Hauptstadt Kabul die Gesichter und Körper der Frauen in den Schaufenstern eines Geschäfts. Vorauseilender Gehorsam gegenüber den Taliban, den alten und neuen Machthabern, die gerade das Land übernommen haben. Dieses Foto von Lotfullah Najafizada, Chef des afghanischen TV-Senders Tolo News, geht über die Social- Media-Plattformen um die Welt. Es erzählt nur ein wenig davon, was jetzt wohl an Repression und Grauen auf den weiblichen Teil der Bevölkerung zukommt. Genauso wie die chaotischen Bilder von Menschen, die am Flughafen von Kabul versuchen, noch in ein rettendes Flugzeug zu kommen, nur einen Eindruck davon vermitteln können, wie groß die berechtigte Angst vieler vor den Radikalislamisten ist.
Vor 20 Jahren wollte US-Präsident George Bush die Taliban und die Al Kaida vernichten lassen, die man als Drahtzieher für den Terroranschlag des 11. September identifiziert hatte. Die amerikanischen Truppen mit ihren Verbündeten sollten als militärische Basis der Garant dafür sein. Die Rückkehr der Taliban heute ist eine große humanitäre Katastrophe und eine schwere politische Niederlage für den Westen, allen voran für US-Präsident Joe Biden. Sich aus sicherheitspolitisch hochsensiblen Weltgegenden zurückzuziehen, ist auch eine Variante des „America first“-Denkens, das Bidens Vorgänger Donald Trump offen auslebte. In Afghanistan zahlen jetzt viele Menschen den Preis dafür.
Sträflich unterschätzt
Afghanistan zeigt auch, wie wenig wir von der Welt der anderen wissen.
Wie konnte das passieren? Peter Neumann, Professor am Londoner King‘s College und Terror-Experte, erklärt es am Sonntag auf Twitter anschaulich. „Der Rückzug des Westens hat das militärische und politische Gleichgewicht in Afghanistan zugunsten der Taliban verändert“, schreibt Neumann. „Militärisch, weil afghanische Truppen in abgelegenen Provinzen keine Luftunterstützung mehr bekommen und den Taliban ausgeliefert sind. Psychologisch, weil er signalisiert, dass der Westen die (ohnehin schwache, korrupte und in sich gespaltene) Regierung aufgegeben hat.“ Die afghanische Armee sei viel schwächer gewesen, als im Westen dargestellt, die Taliban hingegen immer schon stärker – politisch und militärisch. Und eben nicht nur eine Terrorgruppe, sondern auch eine in den paschtunischen Teilen Afghanistans tief verankerte soziale und religiöse Bewegung.
Für diese komplexen Entwicklungen hat man sich in der westlichen Welt zu wenig interessiert. Aus unserer eurozentrischen Perspektive werden die Menschen aus Afghanistan leider oft erst Thema, wenn sie als Geflohene an Europas Grenzen stehen.
„Afghanistan zeigt auch, wie wenig wir von der Welt der anderen wissen.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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