Leiter des UNHCR in Österreich: “Die Situation lässt Abschiebungen nicht zu”

Politik / 17.08.2021 • 16:15 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Leiter des UNHCR in Österreich: "Die Situation lässt Abschiebungen nicht zu"
Schon jetzt zählt Afghanistan den UN zufolge zu jenen Ländern mit den meisten Binnenvertriebenen. Reuters

Christoph Pinter lehnt Rückführungen nach Afghanistan wegen der Sicherheits- und Menschenrechtslage ab.

Schwarzach Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen in Sorge um die Lage von Frauen und Mädchen im Land. Das betont der Leiter des UNHCR in Österreich, Christoph Pinter. Im VN-Interview erklärt er außerdem, wieso Rückführungen in das Krisenland unmöglich und auch Abschiebezentren in den Nachbarstaaten keine Option seien.

Wie geht es den Menschen in den eroberten Gebieten?

Noch ist es zu früh, um das sagen zu können. Grund zur Sorge gibt die Situation von Frauen und Mädchen. Wir haben Berichte erhalten, dass die Hälfte der zivilen Opfer Frauen und Mädchen sind. Ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Sie dürfen ohne männliche Begleitung nicht in die Öffentlichkeit.

Wie viele Menschen wurden innerhalb des Landes durch die Kämpfe vertrieben?

Anfang des Jahres gab es an die 2,9 Millionen Binnenvertriebene. Damit gehört Afghanistan zu den am stärksten betroffenen Ländern der Welt. Ab 1. Jänner sind noch einmal 550.000 dazugekommen. Es geht nun darum, in den Regionen, wo die humanitäre Not am größten ist, Unterstützung zu leisten. In drei Viertel der Provinzen tut das der UNHCR, die Frage ist, ob das in Zukunft auch weiter möglich ist. Bisher sind in den Gebieten, die von den Taliban übernommen wurden, die UN-Einrichtungen größtenteils respektiert worden.

Christoph Pinter leitet seit 2011 das Österreich-Büro des UNHCR. <span class="copyright">Voglhuber/UNHCR</span>
Christoph Pinter leitet seit 2011 das Österreich-Büro des UNHCR. Voglhuber/UNHCR

Wird damit gerechnet, dass eine große Zahl von Afghaninnen und Afghanen in die Nachbarländer flieht?

Dazu fehlen noch aussagekräftige Zahlen. Allerdings sind Nachbarstaaten wie Pakistan und der Iran schon seit Jahrzehnten stark von Fluchtbewegungen aus Afghanistan betroffen. Rund 1,4 Millionen Menschen sind nach Pakistan geflüchtet, etwa 800.000 in den Iran.

Sind Prognosen seriös, wonach viele Flüchtlinge den Weg nach Europa suchen werden?

Die überwiegende Anzahl von Fluchtsuchenden bleibt in ihren Herkunftsregionen. Das verdeutlicht auch unser jüngster UNHCR-Bericht von Ende 2020. Fast drei Viertel der Flüchtlinge befinden sich in den jeweiligen Nachbarländern. Nur ein geringer Teil kommt nach Europa. Die Menschen suchen in erster Linie Sicherheit, sie haben die Hoffnung, wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Erst wenn die Rückkehr nicht absehbar ist, die Lebensbedingungen, die medizinische Versorgung über längere Zeit schlecht sind und ihre Kinder vor allem keine Schule besuchen können, wird die Entscheidung getroffen, nach Europa zu kommen.

Die ÖVP will an den Abschiebungen nach Afghanistan festhalten. Ist das überhaupt realistisch?

Nein. Die Situation lässt es nicht zu, dass man die Menschen wieder zurückbringt. Es ist praktisch auch gar nicht mehr möglich. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage geben es nicht her. Durch den Machtwechsel ist außerdem völlig unklar, wer in Zukunft mögliche Ansprechpartner sein könnten.

Wären Abschiebezentren in den Nachbarstaaten eine Option, wie Innenminister Karl Nehammer vorgeschlagen hat?

Auch das lehnen wir ganz klar ab, vor allem aus dem Grund, dass die Nachbarstaaten Afghanistans ohnehin zu jenen Ländern zählen, die am meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben. 90 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge befinden sich in Pakistan und dem Iran. Die Argumentation, dass sie abgeschobene Personen aus Europa aufnehmen sollen, ist unsolidarisch.