Full-Covid statt Null-Covid
„Wo beginnt Faschismus, wo hört er auf”, irrlichtert ausgerechnet der Bildungs- und Jugendstadtrat der größten Vorarlberger Stadt, Martin Hämmerle (Grüne). Mit dem bemerkenswert dummen Faschismus-Sager, an den man sich noch lange erinnern wird, bemüht er einen Vergleich, den militante Impfgegner sofort verstehen. Sie fürchten, die Maßnahmen seien der Beginn einer neuen, bösen Weltordnung. Tatsächlich ist es der Versuch, mit möglichst wenigen Toten aus der Pandemie zu kommen. Der Bildungsstadtrat dokumentiert mit seinen Aussagen im VN-Interview auch, dass auch in einer Regierungspartei die Sache mit der Impfpflicht überhaupt nicht sonnenklar ist.
Wie die Gewerkschaft in der SPÖ knirscht, so wie Neos-Pandemie-Sprecher Gerald Loacker die Impfpflicht ablehnt, so melden sich nun auch Vertreter der Grünen auf den letzten Metern. Und vertreten damit die gleiche Meinung wie die FPÖ. Der hiesige FPÖ-Chef fantasierte gestern gar von einer Vorarlberg-Allianz gegen die Impfpflicht.
Obwohl derzeit der Löwenanteil der Gesellschaft von der Impfung profitiert und für sich selbst das Risiko einer schweren Erkrankung minimiert, ist die Pflicht zur Impfung keine politisch klare Sache mehr. Schon bei Beschlussfassung am Achensee im November, unter einem früheren Bundeskanzler, war nichts vorbereitet und vieles unklar. Für in gut drei Monaten angekündigt, kamen seither zig Fragen und Ausnahmen dazu. Zunächst sollte die Geltung überall sein, dann überall außer in der Arbeit. Erst ab 14 Jahren, dann ab 18. Nicht abgestimmt mit der ELGA, die die Systeme im Gesundheitsbereich verwaltet.
Eigentlich eh eine zutiefst österreichische Lösung: ein Schlupfloch für jeden. Für dich, für mich, für Djokovic!
Wir sehen Politikern aller Parteien dabei zu, wie sie kalte Füße bekommen – weil sie kurzfristig Stimmeinbußen befürchten. Weil die FPÖ hemmungslos mit Desinformation die Menschen verführt. Seit jeder in der Regierung den Absturz nach Kurz miterlebt hat, wissen sich alle am Tiefpunkt des Vertrauens. Seither gibt es weniger Kommunikation an die Bürger – obwohl die Zahlen alles bisher Dagewesene toppen.
Es schert sich keiner mehr in der bisherigen Ernsthaftigkeit um Corona, dabei sind wir Hochrisikogebiet. Die Strategieänderung zum „Laufen lassen” wurde nicht groß kommuniziert, die Bürger sollen sie vermutlich aus der „Wand” – den explosionsartig steigenden Infektionszahlen – in den Diagrammen selber ablesen.
Die Bundesregierung lässt’s laufen, wettet darauf, dass Omikron tatsächlich weniger Menschen auf die Intensivstation bringt als die Corona-Mutationen zuvor.
Experten fragen sich, ob Testen überhaupt noch sinnvoll ist. Auch weil’s in vielen Fällen nur noch schleppend funktioniert. Nach 48 Stunden Warten auf das Testergebnis braucht es kein Testergebnis mehr. Der Salzburger Landeshauptmann wünscht sich die – ungenauen – Wohnzimmertests zurück, auf die sein Vorarlberger Amtskollege Markus Wallner einst auch stark setzte. Unser Corona-Gecko-Kommandant meint, dass eine ordentliche PCR-Test-Struktur zwölf Wochen Arbeit bedeute. Dabei ist jetzt wirklich nicht die erste Woche der Pandemie.
Durchseuchung wollen es die Verantwortlichen dann doch nicht nennen. Doch es ist nichts anderes als eine Durchseuchung. Statt der Null-Covid-Strategie fährt Österreich nun eine Full-Covid-Strategie, deren Folgen vor allem eines sind: unabsehbar.
Regieren heißt, konsequent zu sein. Regieren heißt auch Mut zu haben, unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen zu treffen. Impfen rettet verlässlich Leben.
Wir haben aufgegeben, bevor Omikron richtig angefangen hat.
gerold.riedmann@vn.at
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Twitter: @gerold_rie
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