Kiew: Russische Soldaten im Mariupoler Stahlwerk

Russische Truppen sind nach Darstellung der Ukraine auf das Gelände des belagerten Asowstal-Stahlwerks in Mariupol vorgedrungen. Man stehe weiter in Kontakt mit den Verteidigern, sagt ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dem Sender Radio Free Europe/Radio Liberty. Der ukrainische Generalstab berichtete am Mittwochabend auch von Luftangriffen auf das Stahlwerk, betonte aber zugleich nach Angaben der Agentur Ukrinform: “Der Feind hat keinen Erfolg.”
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte zuvor gesagt, dass die Blockade des Stahlwerks fortgesetzt werde. Präsident Wladimir Putin hatte befohlen, das große Stahlwerksgelände hermetisch abzuriegeln und auf eine Erstürmung zu verzichten. Zuletzt hatte es aber immer wieder Berichte über russische Angriffe auf das Werk gegeben. Am Wochenende ließ der Aggressor erstmals größere Evakuierungen von Zivilisten aus dem Stahlwerk in Richtung ukrainisch gehaltenes Territorium zu. Beobachter sahen darin ein Zeichen, dass Russland eine Erstürmung des Geländes vorbereiten könnte.
Der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, hatte am Mittwoch im Fernsehen mitgeteilt, dass der Kontakt zu den Verteidigern abgerissen sei. Es seien heftige Kämpfe um die letzte Bastion ukrainischer Einheiten in der südostukrainischen Hafenstadt ausgebrochen. Immer noch würden Zivilisten, darunter über 30 Kinder, auf eine Evakuierung aus dem großen Stahlwerksgelände warten. Am Mittwochabend kündigte Russland an, am 5., 6. und 7. Mai humanitäre Korridore für die Evakuierung von Zivilisten aus dem Stahlwerk zu öffnen. Parallel dazu sollen jeweils zwischen 8.00 und 18.00 Uhr Moskauer Zeit die Waffen schweigen.
Russland soll nach Angaben Kiews am Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai eine Militärparade im weitgehend eroberten Mariupol planen. Der stellvertretende Leiter der Moskauer Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko, sei in Mariupol eingetroffen, um die Feierlichkeiten vorzubereiten, teilte der ukrainische Militärgeheimdienst am Mittwoch mit. Mariupol solle nach den Plänen Moskaus ein Zentrum der “Feierlichkeiten” am 9. Mai werden. Die zentralen Straßen der Stadt würden derzeit “von Trümmern, Leichen und nicht explodierten Sprengkörpern gesäubert”.
“Eine groß angelegte Propagandakampagne ist im Gange”, erklärte der ukrainische Militärgeheimdienst weiter. “Den Russen sollen Geschichten über die ‘Freude’ der Einheimischen über das Zusammentreffen mit den Besatzern gezeigt werden.” Am 9. Mai feiert Russland traditionell den Sieg über Nazi-Deutschland mit einer Militärparade und einer Rede von Kreml-Chef Putin auf dem Roten Platz in Moskau.
Mehr als 100 evakuierte Zivilisten hatten am Dienstag die ukrainische Großstadt Saporischschja erreicht. Laut dem lokalen katholischen Weihbischof Jan Sobilo stehen sie unter einem “furchtbaren Schock”, wie Kathpress meldet. Sie seien “dem heute wahrscheinlich schrecklichsten Ort der Welt, Mariupol, entkommen”. Dort habe man ein 12-jähriges Mädchen erhängt und vergewaltigt gefunden, so Sobilo. Sogar 10-jährige Buben und Mädchen seien massenhaft vergewaltigt worden. Praktisch bei jedem Haus und Wohnblock in Mariupol gebe es kleine Friedhöfe, auf denen Kriegsopfer begraben worden seien.
Unterdessen ergab eine Untersuchung der US-Nachrichtenagentur Associated Press, dass beim russischen Luftangriff auf das Theater von Mariupol Mitte März rund 600 Zivilisten ums Leben gekommen sind. Die Opferzahl sei damit mehr als doppelt so hoch wie bisher angenommen, meldet die ukrainische Agentur Ukrinform. Die Rekonstruktion erfolgte mit Augenzeugenberichten sowie Fotos und Videos. Dabei seien auch russische Angaben widerlegt worden, wonach das Theater von ukrainischen Soldaten zerstört worden sei oder diesen als Stützpunkt gedient habe.
Der russische Verteidigungsminister Schoigu drohte indes, dass auch Waffentransporte des Westens ins Visier genommen werde. Das russische Militär werde NATO-Waffentransporte in der Ukraine als legitime Angriffsziele betrachten, zitierte die Nachrichtenagentur RIA den Minister.
In einer am Mittwochabend vom Verteidigungsministerium verkündeten Tagesbilanz hieß es, dass 77 Luftangriffe auf die Ukraine durchgeführt worden seien. Dabei seien am Mittwoch bis zu 310 ukrainische Kämpfer getötet und 36 Einheiten Militärtechnik zerstört worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow. Zuvor hatte er davon gesprochen, dass Artillerieeinheiten rund 500 Ziele beschossen hätten. Auch mehrere Eisenbahnstationen sollen mit Langstreckenraketen beschossen worden. Damit sollten Waffen- und Munitionstransporte getroffen werden.
Schoigu sprach auch von weiteren Gebietsgewinnen in den ostukrainischen Separatistengebieten Luhansk und Donezk, nannte aber keine Details. Viele internationale Militärexperten sind der Auffassung, dass Russlands Offensive im Donbass seit Kriegsbeginn am 24. Februar nur recht schleppend vorankommt.
Von ukrainischer Seite hieß es am Mittwochabend, dass die Eisenbahnanlage in der strategisch bedeutenden Stadt Dnipro durch einen Raketenangriff getroffen worden sei. Neben Dnipro sei auch die Stadt Tscherkassy von russischem Beschuss betroffen. Die russischen Truppen würden auch weiterhin auf die Großstadt Charkiw schießen, wobei auch mehrere Brände ausgebrochen seien. Sie hätten aber alle schnell gelöscht werden können. Die Bewohner der Millionenstadt wurden aufgerufen. Luftalarme nicht zu ignorieren.
In der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew werden auch mehr als einen Monat nach dem Abzug der russischen Truppen beinahe täglich weitere Leichen von Zivilisten gefunden. Bis Mittwoch seien insgesamt 1.235 ermordete Zivilisten entdeckt worden, teilte der Chef der Gebietsverwaltung, Olexander Pawljuk, am Mittwoch im Nachrichtendienst Telegram mit. Davon seien 282 immer noch nicht identifiziert. Erst am Dienstag seien 20 neue Todesopfer mit Folterspuren in Leichenhallen gebracht worden.
Der russische Angriffskrieg auf das Nachbarland dauert bereits seit Ende Februar. Große Teile nördlich und nordwestlich der Hauptstadt waren einen Monat lang von russischen Truppen besetzt. Der Fund von Leichen in Städten wie Butscha – einige der Toten hatten die Hände gefesselt – sorgte weltweit für Entsetzen. Moskau dementiert, dafür verantwortlich zu sein. Die Vereinten Nationen beziffern nach mehr als zwei Monaten Krieg die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten auf zumindest 3.200. Sie gehen aber von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus.