Kinder- und Jugendanwalt: „Von der gesunden Watschn hört man immer noch“

Politik / 23.05.2022 • 05:15 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
"Oft wird das Gewaltverbot in der Erziehung schon nicht mehr gern gehört in der Gesellschaft", sagt Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer. <span class="copyright">VN/Steurer</span>
"Oft wird das Gewaltverbot in der Erziehung schon nicht mehr gern gehört in der Gesellschaft", sagt Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer. VN/Steurer

Kinder- und Jugendanwalt sieht bei Gewaltverbot Nachholbedarf.

Schwarzach Der neue Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer ist seit einer Woche im Amt. Im VN-Interview spricht der Nachfolger von Michael Rauch über Armut, Gewaltschutz und die Frage, ob Kinder und Jugendliche einen weiteren Lockdown aushalten würden.

Sie waren Polizist, wechselten zur Kinder- und Jugendhilfe, jetzt sind Sie Kinder- und Jugendanwalt. Was gab Ihren Pfad vor? Spielen die Erfahrungen als Polizeibeamter mit?

Ganz sicher. Aber auch der Schritt vorher, meine Lehre als Maler und Anstreicher, war wichtig. Ich konnte das ganze Spektrum der Gesellschaft kennenlernen, schrittweise führte das über die Kinder und Jugendliche bis jetzt zur Kinder- und Jugendanwaltschaft.

Welche Fälle kehrten bei der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder?

Ein ganz großes Thema ist die Armutsgefährdung. Immer wieder trifft das Familien mit mehr als drei Kindern, aber auch alleinerziehende Elternteile, oder Familien ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Wenn die finanziellen Mittel fehlen und Eltern noch mehr arbeiten müssen, um die Familie erhalten zu können, dann rückt das Kind ein wenig in den Hintergrund. Das muss nicht einmal vorsätzlich sein, sondern ist oft den äußeren Umständen geschuldet. Das Kind kann nicht so gefördert werden, wie es das braucht. Das zieht sich bei der Bildung weiter.

Hat sich das durch die hohe Inflation weiter verschärft?

Ich glaube, dass die Spitze noch nicht erreicht wurde. Es gibt noch finanzielle Reserven, die Betriebskostenabrechnung ist noch gar nicht da. Ich glaube, dass man das Ergebnis erst in den nächsten Monaten sieht, und es wird sich bis in die nächsten Jahre ziehen.

Der Kinder- und Jugendanwalt im VN-Gespräch. <span class="copyright">VN/Steurer</span>
Der Kinder- und Jugendanwalt im VN-Gespräch. VN/Steurer

Ist das das größte Problem, das sie bei der Kinder- und Jugendhilfe festgestellt haben?

Man darf da kein Ranking festlegen. Das birgt die Gefahr, dass Probleme übersehen werden. Der Kinderschutz ist generell immer ein Thema. Oft wird das Gewaltverbot in der Erziehung schon nicht mehr gern gehört in der Gesellschaft. Da gibt es immer noch Nachholbedarf. Wir reden nicht nur über körperliche Gewalt, sondern auch über sexualisierte Gewalt, ein Tabuthema, oder psychische Gewalt, die so schwer feststellbar ist.

Wie steht es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen generell?

Da ist man österreichweit grundsätzlich auf einem guten Weg. Das Thema ist aber nie abgeschlossen, es wird nie genug Maßnahmen geben. Jedes Kind, das Gewalt erlebt, ist eines zu viel. Es geht nicht nur darum, das einzelne Kind direkt zu schützen. Man muss auch die Gesellschaft einbeziehen, sodass hingeschaut wird. Diese Aussage „eine gesunde Watsche“, das hört man immer noch, und zwar nicht nur von der älteren Generation.

Für viele Kinder und Jugendliche war die Pandemie sehr fordernd. Wird genug getan, um ihnen zu helfen?

Das ganze System läuft erst wieder richtig an. Jene Kinder- und Jugendlichen, die wirklich psychische Erkrankungen erlitten haben, muss man gut am Schirm haben. Dazu kommt die Ungewissheit mit dem Ukraine-Krieg. Wir leben in einer sehr ungewissen Zeit. Mein Vorgänger Michael Rauch hat bereits auf den nötigen Ausbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie, natürlich im stationären, aber auch im ambulanten Bereich hingewiesen. Man muss sich anschauen, was es an Psychotherapieangeboten braucht. Die Wartezeiten sind relativ lang.

Er habe eine lange To-do-Liste, erzählt Kinder- und Jugendanwalt Netzer. <span class="copyright">VN/STEURER</span>
Er habe eine lange To-do-Liste, erzählt Kinder- und Jugendanwalt Netzer. VN/STEURER

Niemand weiß, was im Herbst passiert. Verkraften Kinder- und Jugendliche noch einen Lockdown und Heimunterricht?

Das Schlimme ist, dass sie schon relativ viel gewohnt sind. Gewissermaßen haben sie zum Teil schon Resilienzen gebildet, um solche Dinge besser zu verkraften. Schlimm ist, dass sich dadurch der Graubereich der nicht-gesehenen Kindern und Jugendlichen vergrößert. Sie können nicht mehr in der Spielgruppe, im Kindergarten, der Schulen oder Vereinen andocken. Das Kind taucht gewissermaßen in der Familie unter.

Der Neubau der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird nicht vorgezogen. Ist die Forderung nach Überbrückungsangeboten eine der ersten, mit denen Sie zur Landesregierung gehen?

Ich werde mich mit dem Thema sicher vorrangig beschäftigen. Es steht auf meiner To-do-Liste ganz oben.

Im neuen Kinderbildungs- und –betreuungsgesetz ist der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz nur in Ansätzen vorhanden. Michael Rauch hat das kritisiert. Tun Sie das auch?

Grundsätzlich muss man sagen, dass das Gesetz noch immer nicht in der endgültigen Fassung vorliegt. Diese Kritik muss ich aber teilen. Die gesetzliche Grundlage ist das eine. Wenn man im Hinterkopf behält, dass der Personalmangel im pädagogischen Bereich auch in den nächsten Jahren nicht verschwinden wird, dann wird man sich die Frage stellen müssen: Wie kommt man zu diesem Personal?

Der Bund verspricht eine Kindergarten-Milliarde für fünf Jahre. Für die Elementarpädagogik soll es jährlich 200 Millionen Euro geben. Reicht das aus?

Es geht sicher in die richtige Richtung. Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich Bund und Länder sich diesem Thema widmen und etwas ändern wollen. Der Rest wird die Praxis zeigen.

Christian Netzer, Jahrgang 1979, ist der neue Kinder- und Jugendanwalt. Seit 2016 war er Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe der BH Bludenz. Von 2001 bis 2011 war Netzer als Polizeibeamter tätig, später als Sachbearbeiter in der Strafabteilung der BH.

Birgit Entner-Gerhold, Magdalena Raos