Selenskyj kritisiert Zerstörungswillen Russlands

Politik / 11.06.2022 • 10:45 Uhr / 7 Minuten Lesezeit

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Russland vorgeworfen, “jede Stadt” in der ostukrainischen Donbass-Region zerstören zu wollen.

Kiev Das Militär tue aber alles, “um die Angriffe der Besatzer zu stoppen”. Nach Angaben des Präsidentenberaters Olexij Arestowytsch sind seit 24. Februar etwa 10.000 ukrainische Soldaten getötet worden. Die Zahl fiel am Freitag in einem der regelmäßigen Youtube-Interviews Arestowytschs mit dem russischen Oppositionellen Mark Feygin.

“Russland will jede Stadt im Donbass verwüsten, jede einzelne, ohne Übertreibung. Wie Wolnowacha, wie Mariupol”

Wolodymyr Selenskyj, Präsident Ukraine

Abgebrannter Eispalast

“Russland will jede Stadt im Donbass verwüsten, jede einzelne, ohne Übertreibung. Wie Wolnowacha, wie Mariupol”, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache am Freitagabend mit Blick auf zwei kriegszerstörte Städte im südlichen Donbass. Vor allem im östlichen Donbass wurde am Freitag weiter heftig gekämpft, insbesondere in der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk in der Region Luhansk. Nach Angaben des Gouverneurs Serhij Hajdaj zerstörten die Russen am Freitag eine wichtige Sporthalle in der Stadt: “Eines der Wahrzeichen von Sjewjerodonezk wurde zerstört. Der Eispalast ist abgebrannt”, erklärte er.

Samstagfrüh berichtete das britische Verteidigungsministerium laut der Nachrichtenagentur Reuters erneut von anhaltenden “intensiven Straßenkämpfen” zwischen russischen und ukrainischen Truppen in der strategisch wichtigen Verwaltungsstadt. Auf beiden Seiten gebe es vermutlich zahlreiche Opfer, teilt das Ministerium unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse via Twitter mit. Die um Sjewjerodonezk stationierten russischen Truppen seien seit Freitag nicht in den Süden der Stadt vorgestoßen.

Außerdem meldeten die Briten, die russischen Luftstreitkräfte hätten mangels modernerer Waffen seit April Dutzende alte, unpräzise Schiffsabwehrraketen gegen Ziele an Land verwendet. Die Geschosse vom Typ Kh-22 stammten aus den 1960er Jahren und seien eigentlich dafür entwickelt worden, Flugzeugträger mit einem Atomsprengkopf zu zerstören.

Setze man sie stattdessen bei einem Bodenangriff mit einem konventionellen Sprengkopf ein, seien sie sehr ungenau und könnten somit erhebliche Kollateralschäden und zivile Opfer verursachen, hieß es in dem Update. Russland verwende diese ineffizienten Waffensysteme wahrscheinlich, weil es den Streitkräften an moderneren und präziseren Waffen fehle.

Harte Kämpfe

In der südlichen Region Cherson griff die ukrainische Armee nach eigenen Angaben unterdessen russische Militärstellungen an. Die Luftwaffe habe Angriffe auf Standorte mit Ausrüstung und Personal sowie Felddepots in der Nähe von fünf Ortschaften in der Region geflogen, teilte der Generalstab mit.

Die Region Cherson wird seit den ersten Tagen der russischen Invasion nahezu vollständig von russischen Truppen kontrolliert. Kiew befürchtet, dass Moskau dort demnächst ein Referendum nach dem Vorbild der 2014 annektierten Krim über einen Anschluss an Russland abhalten könnte. Die Ukraine hat eine Offensive zur Rückeroberung des Gebiets gestartet. Die militärische Lage dort bleibe “angespannt”, erklärte das ukrainische Präsidialamt.

Weder von der Ukraine, noch von Russland gab es bisher erschöpfende Angaben zu den Verlusten in dem am 24. Februar begonnenen Krieg. Diese Woche hatte Verteidigungsminister Olexij Resnikow gesagt, dass aktuell täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet würden. Der Selenskyj-Vertraute Arestowytsch sagte darüber hinaus im Youtube-Interview, dass auf ukrainischer Seite auch zu Beginn des Krieges rund 100 Militärangehörige pro Tag gestorben seien. Auf Feygins Frage, ob man also von rund 10.000 getöteten Soldaten insgesamt ausgehen könne, antwortete er: “Ja, so in etwa”.

Laut Arestowytsch werden dauerhaft mehr russische als ukrainische Soldaten getötet. Am Freitag seien die Angriffe der ukrainische Artillerie mit westlicher Munition besonders effizient gewesen, sagte er und nannte die Schätzung von rund 600 getöteten russischen Soldaten.

Weitere Bitten um Waffen

Mit Blick darauf appellierte der Selenskyj-Berater an den Westen, viel schneller Waffen und Munition zu liefern. Die ukrainische Regierung sei zwar für die bisherige Hilfe sehr dankbar, ohne die man vermutlich bereits hinter den Dnepr-Fluss zurückgedrängt worden wäre. Er verstehe aber die Langsamkeit bei den Lieferungen nicht. Um die russische Aggression zurückzuschlagen, brauche die Ukraine unter anderem schnell mehr Artillerie-Feuerkraft, betonte Arestowytch.

Die Ukraine verfüge über ein Artilleriegeschütz gegen 10 bis 15 russische Artilleriegeschütze, sagte Wadym Skibitskyj, stellvertretender Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes, laut Reuters der britischen Zeitung “Guardian”. Ihm zufolge hängt nun alles davon ab, welche und wie viele Waffen der Westen der Ukraine liefert. Wie von Militärexperten erwartet spielt die Artillerie in der umkämpften Ost-Ukraine eine größere Rolle als beim zurückgeschlagenen russischen Vormarsch zur Hauptstadt Kiew.

Die Ukraine erwartet sich nicht nur bei den Waffenlieferungen ein höheres Tempo, sondern auch bei der Heranführung an die EU. Wenn eine Umfrage zeige, dass 71 Prozent der Europäer die Ukraine als Teil der europäischen Familie betrachteten, dann frage er sich, warum es immer noch skeptische Politiker gebe, die in der Hinsicht zögerten, sagte Präsident Selenskyj am Freitag in einer Videobotschaft auf dem Kopenhagener Demokratie-Gipfel der Stiftung Alliance of Democracies.

Thema Europäische Union

Die deutsche Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und ihr Kiewer Amtskollege Ruslan Stefantschuk dringen in einem gemeinsamen Gastbeitrag in der Zeitschrift “Internationale Politik” ebenfalls auf eine zügige Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union. Dabei plädieren sie dafür, dem von Russland angegriffenen Land schnell zunächst den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu geben. Die EU sollte dann alles tun, damit der Beitrittsprozess “so zügig durchgeführt wird, wie es die EU-Verträge zulassen”.

Für Österreich steht fest, dass der EU-Kandidatenstatus der Ukraine nicht auf Kosten der ebenso beitrittswilligen sechs Westbalkanstaaten gehen darf. Dies unterstrich Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) in einem Doppelinterview mit seinem kosovarischen Kollegen Glauk Konjufca gegenüber der APA und warb für das “Non Paper” Wiens zur EU-Integration des Westbalkans. Konjufca möchte die ganze Region auf einmal in der EU sehen, da seiner Ansicht nach die Entwicklungsunterschiede nicht so groß seien.