Kassenärzte: Das System krankt am Verrechnungsmodell

Je mehr Personen sie behandeln, desto weniger Geld gibt es für Kassenärzte pro Patient. Selbst der Kassenobmann nennt das „Schwachsinn“.
Tamsweg Wenn sie noch einmal die Wahl hätte, sagt Elisabeth Retter, dann würde sie wieder in eine niedergelassene Arztpraxis gehen. „Ich habe so eine Freude bei der Arbeit mit den Patienten“, sagt die Fachärztin für Neurologie. Was ihr an ihrer Arbeit nicht passt, ist das Abrechnungssystem mit ihrem Auftraggeber, den österreichischen Sozialversicherungen. „Ich fühle mich ausgenutzt“, sagt die Medizinerin.
Elisabeth Retter betreibt gleich zwei Ordinationen und ist Vertragspartnerin aller Krankenkassen. Im Jahr 2004 wurde ihre Kassenstelle im Lungau als halbe Stelle geschaffen. Im Pongau gibt es laut Stellenplan von Ärztekammer und Krankenkasse eineinhalb Stellen, so betreibt Retter zwei „halbe“ Praxen in Radstadt bzw. Tamsweg.
Um das profitabel zu führen, müsse man gut rechnen, sagt die Medizinerin. So hat sie ein tragbares Ultraschallgerät, das in ihren beiden Ordinationen im Einsatz ist. Denn der Geräteeinsatz, deren Investitionen und Abnutzung werden bei der Höhe der Verrechnungsposten mit der Kasse miteinbezogen.
Ab dem 65. Patient kein Geld mehr
So darf Retter als Neurologin 56,60 Euro für eine Ultraschalluntersuchung verrechnen. Aber nur bei 32 von 100 Patienten. „Ab dem 33. Patienten darf ich nur noch die Hälfte verrechnen, ab dem 65. bekomme ich nichts mehr für einen Ultraschall.“

Degression nennt man in dem Kassen-Verrechnungsmodell die Tatsache, dass Ärzte ab einer gewissen Anzahl von Patienten weniger oder nichts mehr für eine Behandlung bekommen. Die Verrechnungen erfolgen immer quartalsweise. In manchen Quartalen kommen die Mediziner besser mit den vorgegebenen Verrechnungsmöglichkeiten aus, in anderen weniger.
Wenig profitabel ist es, wenn man einen Patienten im selben Quartal ein weiteres Mal zur Untersuchung bestellen muss. 6,50 Euro darf Elisabeth Retter in so einem Fall berechnen. Sollten weitere Besuche nötig sein, wird dieser Betrag nochmals reduziert. Bei Parkinsonpatienten komme eine Wiederbestellung sehr häufig vor, sagt die Medizinerin. „Auch einen Multiple-Sklerose-Patienten muss ich öfter sehen.“
Regelmäßig neue Anschaffungen
Am Ende einer Untersuchung könne bei dem Patienten schon einmal ein Betrag von rund 100 Euro stehen, den die Ärztin verrechnen kann. Das bedeute aber nicht, dass sie auch wirklich so viel Geld bekomme. Denn einige Beträge würden noch degressiv abgezogen. „Außerdem muss ich Mitarbeiter und Miete bezahlen. Ein Ultraschallgerät muss alle fünf Jahre erneuert werden. Und ich habe noch weitere Geräte.“
Wie viel niedergelassene Kassenärzte in Österreich verdienen, zeigte eine Untersuchung des Instituts für Höhere Studien anhand von Einkommensteuererklärungen von Medizinern im Jahr 2018. Demnach verdienten Vertragsärztinnen und -ärzte im Jahr im Median 143.000 Euro. Hausärzte kommen im Median auf 130.000 Euro, Neurologen auf 171.000. Die Unterschiede zwischen den Medizinern waren laut dieser Studie erheblich. Der Bundesrechnungshof hielt dazu fest, dass die Einkünfte über jenen anderer freier Berufe liegen.
Durchschnittlich 65 Patienten täglich
Vertraglich sind alle Mediziner verpflichtet, jedem Patienten die nötige Behandlung auch zukommen zu lassen. In der Praxis wird das System sehr unterschiedlich umgesetzt. Laut Rechnungshof werden etwa bei Allgemeinmedizinern täglich im Schnitt 65 E-Cards gesteckt. Die Bandbreite lag zwischen 13 und 178 Mal.
Teilweise würde bei so manchem Arzt Zeit sehr relativ, sagt Andreas Huss, Arbeitnehmerobmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). So kann etwa ein persönliches Gespräch mit einem Patienten abgerechnet werden, wenn dieses länger als 15 Minuten dauert. „Wir haben Abrechnungen von Medizinern gesehen, wo der Tag 72 Stunden hätte haben müssen, so viele persönliche Gespräche wurden verrechnet.“
Huss versteht, dass die Lungauer Neurologin mit dem Abrechnungssystem nicht glücklich ist. „Ich habe selbst Tischler gelernt und bin nicht pro Schraube abgerechnet worden. Ich halte das ganze Abrechnungssystem für Schwachsinn.“ Er schlägt stattdessen ein Pauschalsystem für niedergelassene Kassenmediziner vor. „Ich möchte, dass ein Arzt eine Grundpauschale für die Führung einer Praxis bekommt und eine Pauschale für jeden Fall.“ Zusätzlich könne man noch ein Zusatzhonorar für besonders anspruchsvolle Patienten andenken sowie Erfolgsprämien für gesundheitsfördernde Maßnahmen. „Es soll nicht mehr pro Blutkonserve und Ultraschall abgerechnet werden, sondern der Arzt soll entscheiden, was der Patient braucht. Und das soll der Patient dann auch bekommen.“
Reformen des Abrechnungssystems
Mit der Ärztekammer sei man zu Reformen des Abrechnungssystems in Gesprächen. Was Pauschalen angehe, sei die Ärztekammer in der Allgemeinmedizin offen, in manchen Fächern aber weniger, sagt Huss.
Prinzipiell würde er Pauschalierungen nicht ablehnen, sagt Christoph Fürthauer, Kuriensprecher der niedergelassenen Mediziner in der Salzburger Ärztekammer. „Wir wollen auch, dass man nicht mehr jeden Käse extra verzeichnen muss.“ Pauschalen habe man in Salzburg bereits umgesetzt, sagt Fürthauer, auch wenn viele Kollegen das kritisch sehen. „Wir waren ganz stolz, dass wir die Kilometerverrechnungen bei Hausbesuchen pauschaliert haben.“ Damit habe man sich Bürokratie ersparen wollen. Das sei aber nicht bei allen Kollegen gut angekommen, sagt Fürthauer. „Ein junger Kollege hat sich beschwert, was wir für ein altmodisches System haben, in dem er keine Kilometer schreiben darf.“ Auch Fürthauer sieht bei der Abrechnung Reformbedarf. Entscheidend sei aber, was am Ende rauskomme. „Und ich gehöre zu denen, die sagen, das passt derzeit.“
In einer gemeinsamen Recherche haben die Salzburger Nachrichten, die Kleine Zeitung und die Vorarlberger Nachrichten die Auswirkungen von Ärztemangel und Zweiklassenmedizin beleuchtet. Die Ergebnisse finden Sie laufend unter www.vn.at, Dieser Text stammt von Anton Prlić.
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