Frieren für Kiew?

Politik / 27.07.2022 • 22:40 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

Ein Sommer, der uns die Klimakatastrophe drastisch vor Augen führt – und in kommenden Jahren noch Schlimmeres erwarten lässt: Waldbrände wüten in den Mittelmeerländern, in den Dolomiten stürzt der Marmolata-Gletscher, der mit 3343 Metern höchstgelegene Berg der Dolomiten zusammen und reißt elf Menschen in den Tod, der Po ist ausgetrocknet wie die afrikanische Savanne.

Großbritannien erlebt die ärgste Hitzewelle seiner Geschichte und proklamiert den nationalen Notstand: Autoreifen kleben auf dem Teerbelag der Autobahnen, Züge schleichen langsam dahin, weil sich die Schienen in der Hitze verbiegen, der Flughafen Luton wird unbrauchbar, weil die Startbahn in der Hitze schmilzt, in Zuchtbetrieben werden Schweine mit Sonnencreme eingeschmiert und Tausende sterben an Hitzschlag und Dehydrierung. In London wüten Hunderte von Bränden, die Feuerwehr verzeichnete so viele Einsätze wie seit dem „Blitz“, den deutschen Bombardierungen im letzten Weltkrieg. Wegen des immensem Stomverbrauchs der Kühlsysteme stand London knapp vor dem Blackout und Großbritannien musste Strom zu Rekord-Preisen aus Belgien importieren.

Und dennoch. Die Menschen mögen noch so sehr unter der Hitze leiden – die Angst vor der Kälte ist größer: Wenn Putin diesen Winter den Gashahn abdreht und die Wohnungen eiskalt bleiben. Die westeuropäischen Politiker befinden sich in einem akuten Dilemma. Den Boykott Russlands fortsetzen und stoisch Putins Gegenmaßnahmen über sich ergehen lassen? Frieren für Kiew? Oder nach einem Verhandlungskompromiss suchen und Wolodymyr Selenskyj unter Druck setzen, dass er einen Teil seines Landes an Russland abtritt? 40 Prozent der in Europa verbrauchten Gasmenge kam aus Russland. Putin setzt Gas als Wirtschaftswaffe ein und treibt die Europäer vor sich her. Der staatliche Erdgaskonzern Gazprom hat angekündigt, nur noch einen Fünftel der maximal möglichen Menge durch die Nord Stream 1 Pipeline zu schicken. Die Lieferungen nach Deutschland, Europas stärkster Wirtschafsmacht, wurden um zwei Drittel vermindert. Europas Gasreservoirs sind jetzt nur zu 57 Prozent gefüllt – verglichen mit 80 Prozent im letzten November. Fürs erste haben die 27 EU-Nationen die Front geschlossen und angekündigt, im Winter 15 Prozent weniger Erdgas zu verbrauchen. Europa zahlt einen hohen Preis für seine Solidarität mit der Ukraine.

Der britische Premier Neville Chamberlain war mit seiner Appeasement-Politik gegenüber Nazideutschland im Münchner Abkommen vom September 1938 kläglich gescheitert: er konnte den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern. Wenn wir auf Putins Erpressung eingehen, ermutigen wir ihn zu immer neuen Forderungen. Wir werden diesen Winter nicht nur für Kiew frieren, sondern für unsere Zukunft in einem freien Europa.

Charles E.
Ritterband

charles.ritterband@vn.at

Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).

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