Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Das Ende der Achtsamkeit

Politik / 09.08.2022 • 05:00 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

Keine Details, keine Schlussfolgerungen, keine Spekulationen: Diese einfachen Grundregeln zur Suizid-Berichterstattung sind jedem Medienmenschen hierzulande bekannt, im Ehrenkodex für die österreichische Presse festgeschrieben und sie wurden auch von den meisten eingehalten – bis zu dem Tod der engagierten Ärztin Lisa-Maria Kellermayr vor zwei Wochen und zu dem Suizid-Versuch des FPÖ-Politikers Hans-Jörg Jenewein vergangenen Sonntag.

Die Vorgeschichten kann man nicht vergleichen, die Allgemeinmedizinerin wurde durch Terror und Hass bedroht, der Ex-Nationalratsabgeordnete war zuletzt in politische Turbulenzen geraten. Dennoch, beide sind Menschen. Über sie wurde in teilweise höchst unsensibler Art berichtet, in einzelnen Medien und sehr stark auf den Social-Media-Plattformen. Jeder verzweifelte Mensch hat das Recht, mit seiner Geschichte achtsam behandelt zu werden.

Große Zurückhaltung

Dabei sind die Grundregeln, die man beachten sollte, für alle (egal, ob Medienmensch oder aus einer anderen Branche) nachvollziehbar. Im Ehrenkodex steht es so: „Berichterstattung über Suizide und Selbstverstümmelung sowie Suizidversuche und Selbstverstümmelungs-Versuche gebietet im Allgemeinen große Zurückhaltung. Verantwortungsvoller Journalismus wägt – auch wegen der Gefahr der Nachahmung – ab, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht und verzichtet auf überschießende Berichterstattung.“  

Wenn etwa die Todesart oder der Weg des betroffenen Menschen zu diesem Punkt explizit beschrieben werden, droht der wissenschaftlich belegte Werther-Effekt – demnach kann es durch Beschreibungen zu einem erhöhten Risiko von Folgesuiziden kommen. Das betrifft Menschen am Rande des Abgrunds, die getriggert werden können. Die Auflistung von Kontaktnummern für seelische Krisen ist in solchen Fällen leider sinnentleert.

Und es zeigt sich an diesen Fällen auch, dass Suizid nach wie vor tabuisiert wird (2021 zählt die Statistik Austria 1091 Suizidtote, die Zahlen sind seit Jahren rückläufig); dass es vielfach ein tiefes Unverständnis von psychisch Stabilen für jene in einem seelischen Ausnahmezustand gibt; und dass gerade auf Social Media durch die Daueremotionalisierung jedes Maß verloren geht, was dann Auswirkungen auf das Leben außerhalb der digitalen Öffentlichkeit hat. Bei all den Errungenschaften, die die Plattformen bringen – Vernetzung, Teilhabe, Austausch – müssen wir den Umgang mit dem Internet, das laut dem deutschen Soziologen Andreas Reckwitz „zu erheblichen Teilen eine Affektmaschine ist“, also noch immer lernen.

Hilfe in Krisen: Telefonseelsorge: 142, Sozialpsychiatrischer Dienst von aks Gesundheit und pro mente Vorarlberg: www.spdi.at

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