Unter neuen alten Herrschern

Wie sich Afghanistan ein Jahr nach der Taliban-Machtübernahme entwickelt hat.
kabul, wien Im August 2021 spielten sich am Kabuler Flughafen dramatische Szenen ab. Videos von verzweifelten Afghanen, die sich an startenden Flugzeugen festklammern und in die Tiefe stürzen, sorgten für Entsetzen. Nun ist der Abzug der internationalen Truppen und die Übernahme der Macht durch die militant-islamistischen Taliban genau ein Jahr her.
Was hat sich damals zugetragen? Am 15. August 2021 stürmten die Taliban den Präsidentenpalast in Kabul und übernahmen die Kontrolle im ganzen Land. Dies geschah in Folge des fortlaufenden Truppenabzugs der USA und ihrer Verbündeten. Ende August verließ der letzte US-Soldat Afghanistan. Es handelte sich um das Ende einer Ära, was auch international auf Kritik und Unverständnis stieß. Vor 20 Jahren, als Folge der Terroranschläge am 11. September 2001, war es zur US-geführten internationalen Militärinvasion gekommen. Das Ziel: die damals seit 1996 herrschende Taliban-Führung zu stürzen und gegen die Terrororganisation Al-Kaida vorzugehen. Nun sind die Islamisten wieder an der Macht.
Wie lässt sich die aktuelle Lage beschreiben? Die Taliban gelobten ein gemäßigteres Vorgehen als in der Zeit zwischen 1996 und 2001. Doch das Land erlebt derzeit eine humanitäre Katastrophe, fast die Hälfte der Bevölkerung ist von Hunger bedroht. Organisationen wie etwa Amnesty International sprechen zudem von schweren Menschenrechtsverletzungen. Minderheiten werden demnach verfolgt, friedliche Proteste gewaltsam niedergeschlagen und Frauen unterdrückt, heißt es in einem Bericht. Zudem gebe es außergerichtliche Hinrichtungen, Menschen würden verschwinden. Für Aufregung sorgte zuletzt auch die Tötung des Al-Kaida-Chefs Aiman al-Sawahiri mitten in Kabul durch einen US-Drohnenangriff. Die allgemeine Lesart: Die Taliban bieten Terroristen weiterhin Unterschlupf. Die Islamisten weisen das zurück. Zuletzt hat sich auch die Sicherheitslage verschärft. Insbesondere die IS-Terrormilz verübt immer wieder Anschläge.
Wie steht es um die Rechte von Frauen und Mädchen? Sie sind massiv eingeschränkt worden. So sind Mädchen vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen. Frauen dürfen etwa auch nicht mehr in Regierungsämtern arbeiten. Zudem müssen sie sich in der Öffentlichkeit vollständig verhüllen.
Was sind die Folgen der Ereignisse von damals? Noch immer gibt es eine große Fluchtbewegung aus dem Land. Nach Zahlen des Innenministeriums kommen die meisten Menschen, die im ersten Halbjahr 2022 in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, aus Afghanistan. Das waren 7325 Menschen. Im Zuge der Machtübernahme der Taliban vor einem Jahr stellte sich auch die Frage, ob Asylwerber mit negativem Bescheid in das Land abgeschoben werden dürfen. Österreich wollte lange daran festhalten. Mit einer einstweiligen Verfügung verhinderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im August 2021 unter Verweis auf die Sicherheitslage aber eine Abschiebung. Später stellte auch der Verfassungsgerichtshof (VfGH) klar, dass sie unzulässig seien. Noch immer dürften Rückführungen nicht stattfinden, und das wohl noch „auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte“, sagt Ralph Janik, Völker- und Menschenrechtsexperte. Die Taliban verhielten sich auf eine Art und Weise, die mit dem Folterverbot in der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar sei, erklärt er unter Anspielung auf die früheren Aussagen von Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), die Taliban müssten an ihren Taten gemessen werden. Der Experte verweist in diesem Zusammenhang auf die vorläufige Anordnung des EGMR. Die EMRK, EU-Grundrechtecharta, die Anti-Folterkonvention, die Flüchtlingskonvention und andere Verträge stünden Rückführungen nach Afghanistan entgegen. Aus dem Innenministerium hieß es, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die aktuelle Situation in dem Land laufend beobachte. Sämtliche Entscheidungen erfolgten im Rahmen einer Einzelfallprüfung, dabei würden die aktuellen Länderinformationen und die Rechtsprechung berücksichtigt. „Die EMRK ist Grundlage für die Beurteilung der Situation im Herkunftsland.“ VN-RAM