Finanzexpertin zu Wien Energie: “Spekulationsbegriff unpassend”

Politik / 01.09.2022 • 05:00 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Die Vorgänge bei Wien Energie haben für Aufregung gesorgt. <span class="copyright">VN/Reuters</span>
Die Vorgänge bei Wien Energie haben für Aufregung gesorgt. VN/Reuters

Wien Energie: Dorothée Deuring verweist auf aktuelle Umstände am Strommarkt.

Zürich Spekulationen, Leerverkäufe, Termingeschäfte. Solche Begriffe seien in der aktuellen Debatte über Wien Energie unangebracht, betont die aus Vorarlberg stammende Finanzexpertin und Unternehmensberaterin Dorothée Deuring im Telefongespräch mit den VN. Über die Vorgänge werde in vielen Medien oberflächlich berichtet. Das zeuge von Unverständnis, wie der Energiemarkt schon seit Jahrzehnten funktioniere. Die aktuellen Marktbegebenheiten beträfen die gesamte Energiewirtschaft. Wien Energie sei kein Einzelfall.

Vergleich mit Kaution

Die Expertin, unter anderem Mitglied des Verwaltungsrats des Schweizer Energieversorgers Axpo, spricht zunächst über die Umstände, wie der Handel mit Strom vonstattengeht. Dazu müsse man wissen, dass ein Stromerzeuger wie Wien Energie auch nicht einfach nach dem Bedarf der Kunden seine Produktion drosseln oder erhöhen könne. “Je nach Regelkreis, in dem der Produzent tätig ist, wird der produzierte Strom entweder an gebundene Kunden oder am freien Markt verkauft. Mit Großkunden werden in der Regel zeitlich begrenzte Verträge ausverhandelt.” Bei Vertragsabschluss sichere der Stromerzeuger zu, eine bestimmte Menge Strom zu einem bestimmten Preis zu liefern. Steige der Preis deutlich an, wie nun geschehen, steigen proportional dazu auch die Sicherheitsleistungen, die ein Stromerzeuger aufbringen müsse, schildert Deuring und vergleicht das mit einer Kaution. Der Produzent müsse diese Sicherheitsleistungen meist in Bar hinterlegen. „Bei Vertragserfüllung fließt dieses Geld wieder zurück. Damit wird das Risiko für die Marktteilnehmer gesenkt.“ Mit Spekulation, bei der das Risiko steige, habe das nichts zu tun.

Finanzexpertin zu Wien Energie: "Spekulationsbegriff unpassend"
Die Expertin ist unter anderem Mitglied des Verwaltungsrats des Schweizer Energieversorgers Axpo.

Die Finanzexpertin thematisiert die derzeit enorme Volatilität der Strompreise, die zu einem ungeheuren Auf und Ab der Sicherheitsleistungen geführt habe. Dafür nennt sie drei wesentliche Faktoren. Zunächst das zu geringe Stromangebot: In Europa bestehe zum einen derzeit Wasserknappheit. „Die hydraulischen Leistungen von Wasserkraftwerken sind zu niedrig.“ Zum anderen erwähnt sie die vielen, derzeit in Revision befindlichen Atomkraftwerke in Frankreich. Außerdem solle bald das letzte deutsche AKW vom Netz gehen, ohne dass dafür eine entsprechende Alternative geschaffen worden wäre. Zweitens steige der Strombedarf kontinuierlich. Dazu außerdem drittens der Ukraine-Krieg und die damit einhergehenden Sanktionen. “Der Gaspreis hat sich seit November 2021 am freien Markt verzwanzigfacht. Da dieser den Strompreis wesentlich bestimmt, haben wir es letztendlich auch mit unvorhersehbaren Ausschlägen bei den Sicherheitsleistungen zu tun.”

Auf europäische Ebene

Eine Änderung des Merit-Order-Systems, das vereinfacht gesagt, zu einer Koppelung von Gas- und Strompreis geführt hat, könnte Deuring zufolge eine temporär Erleichterung bringen, müsste aber jedenfalls auf europäischer Ebene koordiniert werden. Es reiche indes nicht aus. Sie verweist darüber hinaus auf die Prioritätenumkehr: “Während die Energieerzeuger bisher ihre Zielsetzungen mit Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Leistbarkeit beschrieben, ist mittelfristig der Leistbarkeit und Verfügbarkeit von Energie erhöhtes Augenmerk zu schenken.” Insbesonders die Übertragungsnetzte stünden in Europa aber bereits am Anschlag. Der Ausbau sei keine Sache von Jahren, sondern Jahrzehnten und müsse mit Nachdruck, aber ohne Panikmache, umgesetzt werden, sagt Deuring. “Nicht der nächste Winter macht mir Sorgen, sondern der schleppende Ausbau des Energie-Angebots und damit die rechtzeitige Anpassung an die enorm steigende Nachfrage.”