“Wird viel Schindluder betrieben”

Politik / 19.10.2022 • 22:49 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Othmar Karas empfing die VN zum Interview in Straßburg.REUTERS
Othmar Karas empfing die VN zum Interview in Straßburg.REUTERS

Karas hält Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten in vielen Fragen für gescheitert.

STRASSBURG Seit 1999 ist Othmar Karas Abgeordneter zum EU-Parlament, seit Jänner 2022 Erster Vizepräsident. In Straßburg sprach er mit den VN am Rande der Parlamentssitzung über europäische Asylpolitik, den EU-Beitritt der Ukraine und rechte Kräfte in Europa.

 

Aus Vorarlberg kommen Rufe nach einem rascheren Vorgehen der EU in der Asylpolitik. Ist sie hier gescheitert?

Karas Die Phase, in der wir derzeit in der europäischen Politik sind, ist die herausforderndste und schwierigste seit 1945 – manchmal ist sie schwieriger. Die Migrationsdebatte, die wir jetzt in Österreich und Europa haben, hat aber wenig bis gar nichts mit dem Krieg zu tun …

 

Der Großteil der Menschen in Grundversorgung kommt aus der Ukraine, weswegen andere nicht mehr angemessen versorgt werden können.

Karas Wir müssen es dennoch trennen. Die, die jetzt das Thema bestimmen, kommen mit Schleppern zum Beispiel aus Indien, dem Iran oder Afrika. Wenn Sie die Europäische Union als politisches Instrument der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten verstehen, dann ist diese Zusammenarbeit – nicht nur, aber auch in der Asyl- und Migrationspolitik – bisher gescheitert.

 

Warum?

Karas Weil die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten keinen gemeinsamen Außengrenzschutz, keine gemeinsame innerstaatliche Asyl- und Migrationspolitik, keinen gemeinsamen Solidaritätsmechanismus, keine Einhaltung von internationalem Recht gewährleisten kann. Wegen mangelndem politischem Willen zur Zusammenarbeit.

Solange sich die Mitgliedsstaaten einigen müssen, wird das schwierig.

Karas Es wird viel Schindluder betrieben, manche spielen mit dem Einstimmigkeitsprinzip. Fordern etwas von der EU, stimmen dann aber nicht mit. Deshalb: Schluss mit ständigen Schuldzuweisungen und Forderungen an die Union. Alle müssen an einen Tisch.

 

Kann man sich mit rechten Kräften wie Giorgia Meloni oder Viktor Orbán überhaupt an einen Tisch setzen?

Karas Es gibt keine Alternative dazu. Mit dem Suchen nach Schuldigen und Nationalismus lösen wir aber kein einziges Problem. Wenn wir die Probleme unserer Zeit nicht europäisch und gemeinsam lösen, wird der Kontinent Europa in der Welt geschwächt.

 

Wie kann man einen Viktor Orbán davon überzeugen?

Karas Das ist die traurige Entwicklung: Ich habe den Eindruck, dass manche aus der Geschichte nichts gelernt haben, sondern mit ungelösten Problemen aus der Geschichte spielen. Das halte ich für verantwortungslos. Jedes Abweichen von Gemeinschaftsrecht in einem Land, bringt die anderen Länder in Geiselhaft.

 

Innenminister Gerhard Karner hat angekündigt, Migranten in Zelten unterzubringen, je nach Bleibewahrscheinlichkeit. Ist das eines Landes wie Österreich überhaupt würdig?

Karas Sie wissen, dass ich mit manchem Zungenschlag der österreichischen Politik im Umgang mit der Europäischen Gemeinschaft mehrfach nicht einverstanden war. Internationales Recht und unsere Werte müssen im Umgang mit allen Menschen, egal woher sie kommen, eingehalten werden. Auch Bürgermeister müssen eingebunden werden, sie kennen die Lage vor Ort am besten.

 

Die Bürgermeister wollen gar keine Zelte in ihren Gemeinden haben.

Karas Deshalb: Einbinden, Rücksicht nehmen, gemeinsam Maßnahmen erarbeiten. Aber ohne eine gemeinsame europäische Politik wird es nicht gehen. Wir müssen auch die Möglichkeit schaffen, sich an der EU-Außengrenze registrieren zu lassen, um differenzierte Asylverfahren durchführen zu können. Hier sind wir säumig.

 

Gibt es Spielraum für weitere Sanktionen, sollte Putin weiter eskalieren?

Karas Wir haben es mit Terror zu tun. Putin setzt täglich terroristische Aktionen. Deshalb sind wir uns einig, dass kein Euro mehr in die russische Kriegskasse fließen darf.

Hier müsste man also nachschärfen?

Karas Ja, wie bei allen Schlupflöchern. Und es muss zu einem Embargo bei der Hochtechnologie kommen, weil das direkten Einfluss auf das Militär hat.

 

Die EU hat sich für dem Beitritt der Ukraine verschrieben. Dort gibt es aber noch innerstaatliche Probleme, was zum Beispiel die Pressefreiheit oder Korruption betrifft. War man zu schnell?

Karas Ich habe das Beitrittsansuchen der Ukraine sehr unterstützt: Wann, wenn nicht jetzt, muss eine Europäische Union einem Land sagen, dass es Mitglied werden kann, wenn es die Voraussetzungen erfüllt.

 

Der Nebensatz wird oft vergessen.

Karas Dieses Land verteidigt gerade die europäischen Werte, bei einer Auseinandersetzung auf europäischem Boden. Es geht dabei auch um uns. Daher haben wir alles zu tun, die Freiheitsbemühungen der Ukraine zu unterstützen. Der Kiewer Bürgermeister Klitschko hat mich gebeten, die Ukraine beim Umsetzen der europäischen Standards zu unterstützen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, eine Task-Force auf parlamentarischer Ebene für diese Themen einzurichten, noch vor dem Beitrittsverfahren. Ein Beitrittsprozess dauert, aber es gibt den Willen für den Aufbau demokratischer Strukturen.

Die Reise nach Straßburg erfolgte auf Einladung des Europäischen Parlaments. Die redaktionelle Verantwortung
obliegt allein den Vorarlberger Nachrichten.