Iran implodiert

Politik / 21.10.2022 • 21:21 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

„Die Revolution frisst ihre Kinder“ – im Iran verkehrt sich gegenwärtig die alte Spruchweisheit in ihr Gegenteil: Die Kinder fressen die Revolution. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an mein Studium 1978 in Paris in „Sciences Po‘“, der Elite-Universität für Politikwissenschaft; intelligente iranische Kommilitonen und Kommilitoninnen schwärmten damals mit glühenden Augen von der bevorstehenden Revolution gegen das diktatorische Regime des „Schah“ Mohammad Reza Pahlavi (der notabene in „Persien“ das aktive und passive Frauenwahlrecht im September 1963 – acht Jahre vor der Schweiz – eingeführt hatte). Im Jänner 1979 wurde der Schah gestürzt und bereits im nächsten Monat kehrte der „Ajatollah“ Ruholla Khomeini aus dem französischen Exil zurück: Statt der von den Pariser Studenten herbeigesehnten Demokratisierung kam es unter dem theokratischen Regime der Ayatollahs umgehend zu Staatsterror und Massenhinrichtungen.

Jetzt beginnen die Enkelkinder die Revolution zu fressen. Proteste gegen das Regime der schiitischen Geistlichen und ihrer Häscher gab es zwar bereits 2009, 2017 und 2019. Doch nie waren sie so stark und weit verbreitet wie heute – die Protestbewegung hat sich inzwischen auf mehr als 100 iranische Städte ausgeweitet. Auslöser war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in den Händen der „Revolutionsgarden“, die verhaftet wurde, weil sie ihren Hijab, den gesetzlich vorgeschriebenen Schleier, nicht korrekt angelegt hatte. Proteste hatte es schon zuvor gegeben: Manche Frauen hatten demonstrativ ihren Schleier verbrannt – was mit Auspeitschung und Gefängnis bestraft wurde. Der Hijab und die Diskriminierung der Frauen sind – neben den Feindbildern USA und Israel – eine der ideologischen Säulen der „Islamischen Republik“. Doch (wie die Berliner Mauer) ist der Hijab nicht nur ein Kontrollinstrument des Regimes, sondern auch ein Zeichen der Schwäche. Lehnen sich Frauen dagegen auf, fühlt es sich infrage gestellt – und bedroht. Fiel die Mauer, fällt der Hijab, so ist das Ende des Regimes nah. Das erklärt dessen irrationale, maßlose Reaktion auf die Herausforderungen aufmüpfiger, oft todesmutiger Frauen.

Die Iraner leben längst nicht mehr in einer mittelalterlichen, hermetisch abgeschotteten Welt. Im Iran gibt es 130 Millionen Mobiltelefon-Abos bei 84 Millionen Einwohnern: Durchdringungsgrad 161 Prozent. Die Zahl der Internet-Nutzer erhöhte sich innert zwei Jahren von 58 auf 72 Millionen. Genau wie einst in der DDR die Mauer die intensive Nutzung des „West-Fernsehens“ nicht verhindern konnte, haben die Iraner Demokratie und Freiheit täglich vor Augen. Zwar sind die „Revolutionswächter“ ein Staat im Staate mit großer militärischer, politischer und wirtschaftlicher Macht. Aber sie werden die kommende Revolution gegen das Regime letztlich nicht verhindern können.

Charles E.
Ritterband

charles.ritterband@vn.at

Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).