Große Geste vor dem ersten Jahrestag

Am Freitag jährt sich der russische Einmarsch in die Ukraine. Bereits gestern reiste US-Präsident Biden nach Kiew.
Kiew Ohne Ankündigung ist US-Präsident Joseph Biden zu einem Blitzbesuch kurz vor dem Jahrestag des russischen Angriffskrieges in die ukrainische Hauptstadt Kiew gekommen. Zeitweise dröhnt Luftalarm in der Millionenmetropole. Als eine „historische“ und „mutige“ Visite lobt der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj Bidens Ankunft bei Sonnenschein auf dem roten Teppich im Präsidentenpalast. Stolz lächelt der 45-Jährige, der unlängst noch Biden im Weißen Haus getroffen hat, an der Seite seiner Ehefrau Olena Selenska. Vor dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine an diesem Freitag ist Selenskyj eine Überraschung gelungen.
Zeichen gegen Moskau
Noch nie hat ein US-Präsident ein aktuelles Kriegsgebiet besucht, ohne dass – wie etwa im Irak oder in Afghanistan – auch eigenes Militär vor Ort ist, wie das Weiße Haus deutlich macht. Das sei „historisch“ und „nie da gewesen“. Vor dem Kriegsjahrestag entschied Biden demnach selbst, die Reise trotz der Gefahren zu unternehmen, um Kremlchef Wladimir Putin zu zeigen, dass die Front gegen Russland geschlossen ist.
Die USA haben Russland nach eigenen Angaben vorab über den Besuch informiert. US-Sicherheitsberater Jake Sullivan machte am Montag bei einem Telefonat mit Journalisten keine Angaben dazu, was genau Inhalt der Information war und wie die Russen antworteten. „Aber ich kann bestätigen, dass wir diese Information zur Verfügung gestellt haben“, sagte Sullivan. Das sei einige Stunden vorher geschehen. Die US-Seite machte zunächst keine Angaben dazu, wie Biden nach Kiew kam. Gewöhnlich reisen Staatsgäste in Kriegszeiten mit dem Zug in die ukrainische Hauptstadt. Allerdings soll es nach Freigabe der entsprechenden Informationen durch die Sicherheitsdienste später noch Angaben zur Reiseroute geben, hieß es aus der Delegation.
Heute, Dienstag, will Biden in Warschau eine Rede halten – am selben Tag wie Putin in Moskau. Der Krieg dürfte die Auftritte der beiden Staatschefs, die sich zuletzt 2021 trafen, bestimmen.
Widerstand um Kiew
Noch vor einem Jahr hatte Selenskyj selbst mehrfach öffentliche Warnungen vor einem Angriff Russlands in den Wind geschlagen. Biden hingegen warnte immer wieder vor der Gefahr – und steht nun wie ein Sieger in der ukrainischen Hauptstadt. Eigentlich hatte in Moskau Putin damit gedroht, auch Kiew einzunehmen. Aus den Vororten der Millionenmetropole musste er aber schnell seine Truppen abziehen. Der Widerstand war zu groß.
Nun steht Biden, dessen Regierung die Ukraine so stark mit Waffen und Geld unterstützt wie kein anderes Land, an diesem Montag am alten Zweitsitz der russischen Zaren, dem Marienpalast. Lächelnd nimmt der Gast aus Amerika die Sonnenbrille ab, als das Ehepaar Selenskyj ihn begrüßt.
„Putin dachte, dass die Ukraine schwach und der Westen gespalten ist. Er dachte, dass er uns überrumpeln könnte. Ich glaube nicht, dass er das noch denkt“, sagt Biden später. In seiner Rede erwähnt der 80-Jährige, dass die westlichen Verbündeten Kiew bereits 700 Panzer, Tausende Schützenpanzer und Artilleriesysteme und knapp zwei Millionen Artilleriegeschosse geliefert hätten. Und er kündigt noch mehr Nachschub an.
„Allee des Mutes“
Als besondere Ehre sieht sich der US-Präsident in einer Gedenkplatte auf dem Parlamentsvorplatz verewigt – wie zuvor schon der polnische Präsident Andrzej Duda und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Nur wenige schaffen es auf die „Allee des Mutes“. Weder Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz noch der französische Präsident Emmanuel Macron wurden auf diese Weise gewürdigt.
Biden besucht das weltberühmte Michaelskloster, läuft im dunklen Mantel und mit einer Krawatte in den ukrainischen Nationalfarben Blau-Gelb an Selenskyjs Seite an Heiligenbildern vorbei – direkt im Herzen der Stadt. An den Mauern des Klosters sind auch Fotos gefallener Soldaten mit Namen und Lebensdaten zu sehen. Es sind Hunderte. Biden betont, dass die Ukraine in ihrem Streben nach Demokratie, Souveränität und territorialer Unversehrtheit weiter unterstützt werde – so lange wie eben nötig. Trotz Geheimhaltung gab es bereits am Vorabend in Kiew wegen geplanter Straßensperrungen Gerüchte über einen möglichen Besuch des US-Präsidenten. Manche Autofahrer ärgern sich am Montag dann über die vorübergehend nicht befahrbaren Straßen. Andere Kiewer wiederum hissen spontan die US-Flagge an ihren Balkonen.
„Ein Jahr danach hält Kiew stand. Die Ukraine hält stand. Die Demokratie hält stand.“




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