Nicht normal
Jetzt haben wir zwei Wochen lang gehört, was denn alles normal sei. Bis hin zur reichlich gewagten Definition der niederösterreichischen Landeshauptfrau, wonach das Gegenteil „radikal“ sei. Vom ebenfalls gern zitierten Hausverstand her ist das Gegenteil von „normal“ einfach „nicht normal“. Lasst uns doch einmal darüber reden, was nicht normal ist.
Nicht normal ist, dass die amtierende Regierung weder ein Klimaschutzgesetz auf die Reihe gebracht hat noch das immer wieder angekündigte Informationsfreiheitsgesetz.
Nicht normal ist, dass seit 20 Jahren, seit der Regierung Schüssel, es keine Partei gewagt hat, die heilige Kuh des Pensionssystems auch nur anzufassen, weil das Stimmen kosten könnte. Bis 2026 wird das Defizit im Pensionssystem auf knapp 33 Milliarden Euro ansteigen, beinahe doppelt so viel wie vor 15 Jahren (Quelle: Agenda Austria). Wir gehen noch immer so früh wie vor 50 Jahren in Pension, obwohl die Lebenserwartung um sieben Jahre höher liegt. Nicht normal war das Ergebnis der türkis-blauen Krankenkassenreform. Statt der versprochenen Einsparung von einer Milliarde fielen Mehrkosten von 215 Millionen an. Die Reform war ein einziger Schmäh, der mehr Personal verursacht hat. Nicht normal ist, wie die aktuelle Regierung der Inflation fast tatenlos zusieht: In Österreich liegt sie bei knapp acht Prozent, EU-Schnitt: 6,4 Prozent, Schweiz 1,8 Prozent. Nicht normal ist, dass in Österreich die Besteuerung der Arbeit so hoch ist wie fast nirgends. Im Durchschnitt muss ein Single fast 48 Prozent des Einkommens für Steuern und Sozialbeiträge abgeben. Das liegt deutlich über dem OECD-Schnitt von 35 Prozent. Nicht normal ist, dass in Österreich nur 23 Prozent der Kleinkinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz haben, in Dänemark 75 und in den Niederlanden 72 Prozent, EU-Schnitt: 36 Prozent.
Nicht normal war die Überförderung von Unternehmen bei Covid. 2020 und 2021 betrug sie fast 600 Millionen Euro. Der Rechnungshof hat systematische Mehrfachförderungen aufgedeckt. Es wurden Verluste ersetzt, die gar nie angefallen sind. Große Firmen wurden bevorzugt und kleine bisweilen abgespeist, obwohl große Firmen mehr Reserven haben, um so eine Krise zu überstehen. Zu einer erheblichen Überförderung kam es für die der ÖVP sehr nahestehende Landwirtschaft, mit Förderungen ohne Angabe von Umsatzdaten oder den Nachweis von Verlusten (Quelle: Rechnungshof). Normal? Wenn wir schon bei der Landwirtschaft sind: Nicht normal war das Verhalten der EVP (Europäische Volkspartei) und damit auch der ÖVP, als sich die EU-Umweltminister auf ein Gesetz über die Wiederherstellung der Natur geeinigt hatten, um der zunehmenden Zerstörung der Lebensräume Einhalt zu gebieten.
Kurz vor der Abstimmung im EU-Parlament haben EVP und ÖVP ihre Zustimmung zurückgezogen, konnten aber dennoch nicht verhindern, dass das Parlament das Gesetz befürwortet hat. Nicht normal ist, dass die amtierende Regierung weder ein Klimaschutzgesetz auf die Reihe gebracht hat noch das immer wieder angekündigte Informationsfreiheitsgesetz. Nicht normal ist, dass die Spitze des größten Gerichts, des Bundesverwaltungsgerichts (zuständig etwa für Asylfragen und Umweltverfahren), seit Monaten unbesetzt ist, weil ÖVP und Grüne sich nicht einigen können. Nicht normal ist, dass die Regierung gegen den vorhersehbaren Mangel an Lehrern oder Pflegepersonal lange Zeit nichts unternommen hat.
Nicht normal ist freilich auch, dass in der Wählergunst eine Partei vorn liegt, die zum Teil an den geschilderten Missständen Mitschuld hat, siehe die Krankenkassen, aber nicht einen einzigen Vorschlag zur Lösung der Probleme hat.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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