Debatte über Armut nach Kanzlervideo: “Wir haben ein strukturelles Problem”

Armutskonferenz warnt vor Folgen der Teuerung. Die aktuelle Diskussion gehe zu kurz. Agenda Austria fordert mehr Netto vom Brutto. Vollzeit müsse sich rentieren.
Schwarzach, Wien Die Aufregung um das Video mit Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ebbt nicht ab. Seine Aussagen haben eine Debatte über Armut in Österreich ausgelöst. Gerade in Zeiten der Teuerung kämen viele Menschen nicht mehr über die Runden, warnt Michael Diettrich, Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz. Ihm zufolge gibt es ein strukturelles Problem. Das liberale Institut Agenda Austria thematisiert die Teilzeitfalle, die zur Altersarmut beitrage.
Video sorgte für Aufsehen
In dem in der vergangenen Woche aufgetauchten Mitschnitt hatte der Kanzler in lockerer Atmosphäre vor Parteikollegen in Hallein in Abrede gestellt, dass Kinder keine warme Mahlzeit in Österreich bekommen können. “Wisst’s, was die billigste warme Mahlzeit in Österreich ist? Ist nicht gesund, aber sie ist billig: ein Hamburger bei McDonald’s.“ Zudem äußerte er sich kritisch über die hohe Teilzeit-Quote in Österreich. „Wenn ich zu wenig Geld habe, gehe ich mehr arbeiten.“ Später verteidigte Nehammer seine Aussagen: “Ich stehe dazu, dass sich Leistung lohnen muss, und ich stehe dazu, dass Eltern eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder haben.“ Am Wochenende sagte wiederum Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) in der ORF-„Pressestunde“, dass es keine weitverbreitete und manifeste Armut in Österreich gebe.
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Zahlen liefert die EU-SILC-Erhebung – eine Studie über die Lebensbedingungen in der Europäischen Union, welche die Statistik Austria jährlich in Österreich vornimmt. Ein Haushalt gilt als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, wenn er erheblich materiell oder sozial benachteiligt ist, weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat oder nur in geringem Ausmaß am Erwerbsleben teilnimmt. Mindestens eines der Merkmale muss zutreffen. Das galt im Vorjahr für 17,5 Prozent der österreichischen Privathaushalte. In Vorarlberg waren es im Durchschnitt der Jahre 2020 bis 2022 sogar 21 Prozent, der zweithöchste Wert nach Wien.
2,3 Prozent der Menschen in Österreich gelten wiederum als erheblich materiell oder sozial benachteiligt: Sie konnten sich also mehrere Ausgaben des täglichen Lebens nicht leisten, etwa neue Möbel, einen Urlaub oder eine warme Wohnung. Wie hoch dieser Anteil in Vorarlberg ist, war nicht möglich, auszuweisen. Auf VN-Nachfrage verweist die Statistik Austria darauf, dass die Stichprobe für die EU SILC-Erhebung repräsentativ für ganz Österreich ist. Auswertungen auf Bundesländerebene seien daher mit einer größeren Schwankungsbreite verbunden, also nur schwierig vergleichbar. Insgesamt wurden 5928 Haushalte befragt.

Die Agenda Austria spricht von einer Frage der Definition. Nicht die Armuts- oder Ausgrenzungsquote, sondern der Anteil der Menschen, die erheblich materiell und sozial benachteiligt sind, sei das aussagekräftigste Maß für manifeste Armut, erklärt Ökonomin Carmen Treml. Die genannten 2,3 Prozent seien tatsächlich gering – und im Vergleich zu 2019 sogar zurückgegangen.
Teilzeit-Falle als Problem
Die hohe Teilzeitquote, gerade bei Frauen, bezeichnet auch Treml als problematisch. „Wenn etwa Frauen über das gesamte Erwerbsleben Teilzeit arbeiten, sind die Pensionskonten auch entsprechend niedriger.“ Die große Kluft zwischen Männern und Frauen ließe sich vor allem dadurch erklären. Es sei daher schon richtig, mehr Personen zu Vollzeit zu bewegen, auch für das Sozialsystem. „Entscheidend ist aber, dass den Menschen tatsächlich auch mehr Netto vom Brutto bleibt. Es kann nicht sein, dass es sich nicht rentiert. Da braucht es eine Systemänderung.“

Michael Diettrich von der Vorarlberger Armutskonferenz widerspricht dem Kanzler. Durch die Teuerung dürfte sich der Anteil jener, die unter einem großen finanziellen Druck stehen, sogar noch verschärfen. „Es gibt mehr Menschen, die in den Beratungsstellen angeben, dass sie nicht über die Runden kommen.“ Die drei größten Ausgabeposten sind Wohnen, Energie und Essen. Bei Wohnen und Energie könne man kurzfristig nichts einsparen, deshalb müsse man das beim Essen machen. Die sinngemäße Aussage Nehammers, dass die Menschen einfach mehr arbeiten sollen, kann Diettrich nicht nachvollziehen. „21 Prozent Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung in Vorarlberg sind ein strukturelles Problem, kein persönliches. Der Kanzler versucht es auf die persönliche Ebene zu verlagern.“ Immerhin seien vor allem Alleinerziehende oder kinderreiche Familien betroffen, die oft nicht die Möglichkeit hätten, mehr zu arbeiten.
Soziale Sicherheit und Teilhabe
Dem Sprecher der Armutskonferenz geht die aktuelle Debatte zu kurz. „In einem reichen Industrieland wie Österreich besteht Armut nicht überwiegend darin, dass man nichts zu essen hat. Das größte Problem ist die soziale Sicherheit und Teilhabe.“ Diettrich verweist auf eine Studie der OECD von 2017, wonach die unteren 40 Prozent der Bevölkerung in den letzten 30 Jahren von der Wohlstandsentwicklung abgehängt wurden. „Das sind nicht alles Menschen, die arm oder armutsgefährdet sind, sondern jene, die jeden Cent drei Mal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben. Wenn etwas Außergewöhnliches passiert, rutschen sie ab. Ein solches außergewöhnliches Ereignis ist die Teuerung.“