Wie kinderfreundlich ist Vorarlberg, Herr Netzer?

Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer über neue Lücken im Bildungsbereich, Mobbing und Radikalisierung.
Interview: Melanie Fetz & Michael Prock
Schwarzach Wie chancenreich ist Vorarlberg? Wo hapert es im Bildungsbereich? Und wie geht es den Kindern im Land? Anlässlich des internationalen Tags der Kinderrechte haben die VN mit Kinder- und Jugendanwalt Christian Netzer über diese Fragen gesprochen.
Vorarlberg möchte bis 2035 das chancenreichste Land für Kinder werden. Wie kinderfreundlich ist Vorarlberg heute?
Christian Netzer: Mit Superlativen umzugehen, ist natürlich immer schwierig. In vielen Bereichen setzen wir schon hohe Maßstäbe. Im Moment besteht aber die Gefahr, dass wir bereits Erreichtes wieder verlieren. Im Bildungsbereich tun sich Lücken auf, beim Gewaltverbot hängen wir immer noch an der körperlichen Gewalt. Themen wie psychische Gewalt, Vernachlässigung, Miterleben von Gewalt sind immer noch nicht in den Fokus gerückt. Beim Thema psychische Gesundheit haben wir es immerhin geschafft, dass offener darüber gesprochen wird.
Wo sehen Sie Lücken im Bildungsbereich?
Netzer: Gefühlt wird alles schnelllebiger. Wir stecken bei der Bildung zu digitalen Medien noch in den Kinderschuhen und schon kommt die künstliche Intelligenz. Es gibt also eine neue Baustelle, wir haben aber die davor noch gar nicht abgearbeitet. Die Lebenswelt, die sich mit den sozialen Medien bei Jugendlichen entwickelt hat, ist noch gar nicht erforscht. Wir wissen noch gar nicht, wie sich alles auswirkt. Jetzt setzen wir Erwachsene uns noch mit Facebook und Instagram auseinander, schon kommen die nächsten Probleme.
Was hat sich durch die digitalen Medien verändert?
Netzer: Mobbing war immer schon ein Thema. Allerdings hat es sich mit dem Cybermobbing verlagert. Früher war die Schule der Raum, wo Schüler gemobbt werden. Aber ein Schüler hat sich nach Hause zurückziehen können und hatte dort seinen Schutzraum. Diesen gibt es nicht mehr, Cybermobbing geht 24 Stunden.
Sie befürchten, dass vieles Erreichte wieder verloren werden kann. Ist da die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich oder sehen Sie es als Versäumnis der Politik?
Netzer: Politik ist ein zweischneidiges Schwert. Es wird gefährlich, wenn sie eine Gesellschaft zu sehr steuert. In einer Demokratie sollte es in vielen Bereichen umgekehrt sein. Wir merken bei digitalen Medien schon im Kinderbereich massiven Nachholbedarf. Es gibt Fünfjährige, die mit dem Kinderwagen und dem Handy in der Hand in den Kindergarten gebracht werden, aber kein Puzzle kennen oder zum Schulstart keine Jacke anziehen können. Das sind aber gesellschaftliche Erziehungsthemen.
Wie kann man diese Eltern erreichen?
Netzer: Vieles passiert nicht aus Faulheit, sondern aus Unwissenheit. Das Handy ist für Eltern normal. Die Zeit am Handy ist nichts Böses, also kann es auch für das Kind nicht schlecht sein. Da müssen wir Präventionsprojekte starten. Bei der Ernährung wissen wir zum Beispiel sehr viel. Wann gibt es die erste Nahrung, wie funktioniert Stillen und so weiter, da hat man sehr dazu gelernt. Beim Umgang mit Medien müssen wir das auch schaffen. Das Internet ist bisher fast ein rechtsfreier Raum. Man reguliert eigentlich alles, aber im Internet ist allem Tür und Tor geöffnet. Da ist der Gesetzgeber gefordert, das kann man nicht nur gesellschaftlich machen.
Macht es sich die Gesellschaft manchmal etwas zu leicht, indem Verantwortung an Politik und Bildungssystem abgeschoben wird?
Netzer: Ganz sicher. Wir spüren jetzt in vielen Bereichen Personalnot. Wenn man aus der Praxis hört, was die Pädagogen alles abfangen müssen, wird sich das irgendwann nicht mehr ausgehen.
Was macht der Personalmangel in den Kinderbetreuungseinrichtungen und in den Schulen mit den Kindern?
Netzer: Je früher Kinder in Betreuungseinrichtungen kommen, desto höher sollte die Qualität sein. Wenn versucht wird, sich mit Laien auszuhelfen, gibt es die Gefahr, dass sich Kinder nicht so entwickeln, wie sie sollten. Gerade was die Beziehungsebene usw. angeht.
Was die Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen angeht, sprachen Sie im Frühjahr von einer prekären Situation. Hat sich diese inzwischen verbessert?
Netzer: Im niedergelassenen Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie gibt es Wartezeiten von bis zu sechs Monaten. In Anbetracht dessen, wie schnell sich Kinder entwickeln, sind mehrere Monate sicher eine zu lange Wartezeit. Wenn man den niederschwelligen bzw. den kostenlosen Zugang verbreitern würde, wäre vielen schon geholfen.
Und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zumindest eine Kassenleistung wird …
Netzer: Das wäre das Optimalste. Wenn psychischer Gesundheit mehr Bedeutung beigemessen würde, wäre das das richtige Signal.
Immer mehr Kinder haben mit psychischen Problemen zu kämpfen, heißt es. Ist dies auf die multiple Krisensituation zurückzuführen?
Netzer: Ich denke die Ungewissheit, die mit multiplen Krisen einhergeht, ist sicher eine von vielen Ursachen. Gekoppelt wird dies damit, die Realität am Handy zu haben. Es werden oft nicht mehr wohlüberlegte Beiträge in Nachrichten angeschaut, sondern Bilder von der Erschießung und von Toten auf TikTok – und das ungefiltert. Das macht sicher sehr vieles mit der Psyche.
Müssen die Schulen stärker reagieren? Stichwort Quellenkritik sowie Vorbereitung und Einordnung oder wäre das wieder Elternaufgabe?
Netzer: Ich denke beides. Das Fach digitale Grundbildung ist nötig. Weil sich die Themen überschlagen, muss aber einfach ganz viel zu Hause abgefangen werden. Die Eltern sind jene, die schnell reagieren können. Die Schulen können vorbereiten und Grundlagen schaffen. Einzelne Themen sind aber schwierig. Der Ukraine-Krieg wurde von den Jugendlichen ganz anders wahrgenommen als der Krieg in Israel.
Wo ist der Unterschied?
Netzer: Beim Ukraine-Krieg waren sich Jugendliche schnell einig wer gut und wer böse ist. Jetzt ist das eher verschwommen. Es gibt oft auf einmal auch Radikalisierungstendenzen. Das Brodeln ist vorhanden. Ich denke nicht, dass die Schulen das allein stemmen können.
Kann man schon sagen, dass der Konflikt Jugendliche radikalisiert?
Netzer: Das denke ich nicht. Ich denke, dass sich manche mehr mit gewissen Themen auseinandersetzen. Glaube ist wieder mehr Thema als im anderen Konflikt. Ich denke, hier werden Schwachstellen aufgezeigt, wo Radikalisierungstendenzen entstehen könnten.
