Wunsch und Wirklichkeit, Emotion und Verstand: das langfristig Notwendige

Spezial / 03.02.2017 • 18:22 Uhr / 10 Minuten Lesezeit
Wunsch und Wirklichkeit, Emotion und Verstand:  das langfristig Notwendige

Lieber Herr Sausgruber, alles wird immer schneller, immer zusammenhängender, immer komplizierter. Und die Menschen wollen einfache Lösungen, meint die Politik. Geht sich das aus?

Spontanes Erleben ist ja geprägt von einfachen Bildern und Wünschen, die rasch erfüllt werden sollen. Wir wollen am liebsten einfache, schnelle und möglichst schmerzfreie Lösungen. Faktische Hindernisse, juristische oder finanzielle Bedenken werden gerne überhört und als lästig empfunden. Die einfache Lösung, der große Wurf ist gefragt und wird gerne geglaubt, wenn er gekonnt behauptet wird.

Aber so einfach ist’s nun mal nicht.

Ja, nicht alle Probleme passen sich diesem Wunsch an. Gerade die größeren sind häufig vielschichtig und erfordern Differenzierung. Veränderungen können oft nur schrittweise stattfinden und erfordern Zeit, deshalb ist eine durchdachte Strategie notwendig. Sachliche Aufarbeitung, Differenzierung und schließlich die zeitlich verzögerte Wirkung fördern allerdings nicht gerade die breite Akzeptanz. Schließlich wird damit nicht der große Wurf, sondern ein Kompromiss geboten, der trocken und langweilig wirkt.

Die heutige Politik muss alle paar Monate inszenierte Grundsatzreden bieten, für langfristige Strategieplanung scheint keine Zeit mehr zu sein.

Für die entscheidenden Themen muss trotzdem der Weg der sachlichen Analyse und der Aufarbeitung bestritten werden, wenn man an einer ernsthaften Umsetzung interessiert ist. Dafür muss eine durchdachte Strategie erarbeitet werden, die langfristig tragfähig und umsetzbar ist. Vordenken und nachdenken ist wichtig, aber auch das Durchdenken, das Zu-Ende-denken. Wünsche und Möglichkeit, sogar das ungefähr Plausible und das konkret Durchdachte, sind zweierlei. Für brauchbare Ergebnisse braucht es gute Werkzeuge, wie den Hausverstand und die Grundrechnungsarten.

Diesen Vorarlberger Hausverstand haben Sie über Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt. Ist er eine Allzweckwaffe, heute und immer?

Den Hausverstand könnte man als intuitive Gesamtbeurteilung aufgrund von Lebenserfahrung beschreiben. Er ist dem Sachverstand sowohl an Weitblick als auch an Durchblick überlegen. In der Politik wird er häufig zwischen Wünschen von Gruppen einerseits und Expertenwissen und juristischem Anspruch andererseits eingeklemmt. Natürlich brauchen wir Fachleute und Juristen, aber jede Entscheidung und jede Vorschrift sollte vor dem Hausverstand bestehen können. Und nicht nur das, sie muss auch mehrheitsfähig werden. Und dafür brauchen wir die Emotion.

Emotion wird in der politischen Analyse meist negativ bewertet. In der jüngsten Diskussion über das Postfaktische wird der Emotion eine große Rolle zugeschrieben. Logik alleine führt aber in diesem Fall nicht zum Ziel?

Durchdenken alleine genügt nicht. In der Demokratie wird etwas möglich, wenn es mehrheitsfähig ist. Der Mensch ist keineswegs nur Logiker. Er wird stark spontan und durch Gefühle und Erwartungen gesteuert. Für die Umsetzung braucht es ausreichend Akzeptanz. Die Stimmung muss passen, und die Politik braucht ein Gespür für das Zumutbare. Rückblickend ist auch Wolfgang Schüssel nach großen Erfolgen daran gescheitert. Die Wahl Gusenbauers ist auch deshalb passiert, weil die Zumutbarkeit für weite Kreise nach deren Empfinden überschritten wurde. Schüssel hat rückblickend das Notwendige zu schnell umgesetzt. Österreich wäre heute weiter, wenn der Reformweg ohne Rückschlag und unter seiner Führung in von der Mehrheit akzeptierten Schritten hätte fortgesetzt werden können.

Das heißt aber auch, dass wir noch nie rein faktisch
waren?

Wer das sagt, hat keine Ahnung, wie der Mensch tickt. Ähnlich wie bei der Temperatur gibt es die gefühlten Verhältnisse, die von den Fakten erheblich abweichen können. Um eine Mehrheit zu erlangen, benötigt es massentaugliche Kommunikation zur Meinungsbildung, einfache, klare Sprache und bewegende Bilder, die Vorstellungen erzeugen. Bilder, die symbolische Kraft haben, in die Tiefe gehen. „Kinder in die Mitte“ oder die Ehrenamtsaktion sprechen zum Beispiel eine Emotion an. Die Strategie ist viel trockener. Wir haben lange damit gerungen, eine Formulierung zu finden, um Bilder zu erzeugen, welche die Menschen emotionell positiv stimmen und ansprechen. Am Ende braucht es das Persönliche und Persönlichkeiten, die für etwas stehen, quasi eine Marke bilden, die entschlossene Behauptung und den Mut zu ihrer Wiederholung.

Ein bisschen Populismus?

Nicht jede Emotion ist populistisch. Ohne Stimmung gibt es in der Regel zu wenig Stimmen. Nach meiner Erfahrung braucht es konstruktive Emotion, die weit davon entfernt ist, Populismus zu sein.

Gerade vom rechten Rand kommt aber oft nur Stimmung.

Erst wenn eine durchdachte Strategie vorliegt, ist der Zeitpunkt gekommen, diese massentauglich zu kommunizieren. Und zwar durch Vereinfachen und Verdichten, aber ohne Verlust der Nähe zur Wahrheit. Häufig wird auf das Durchdenken verzichtet und gleich mit Emotion gearbeitet, weil es weniger mühsam ist. Diese Vorgangsweise erhöht die Risiken von Sackgassen und Holzwegen jedoch gewaltig.

Geschliffene Reden vor eigenem Publikum, Dauerfeuer auf Twitter. Ist das derzeit angewandte Instrumentarium nicht tauglich?

Wenn wir das langfristig Notwendige verständlich machen wollen, genügt es nicht, Funktionäre und einige Journalisten zu überzeugen. Es sollte auch der Arbeiter und die Angestellte, der Gastwirt, der Handwerker und der Pensionist, auch der Jugendliche überzeugt sein. Also muss man mit allen reden, offen auf die Leute zugehen und die Dinge so ansprechen, wie sie sind, nicht beschönigen und nicht dramatisieren, deutsch reden, damit man sich auskennt.

Wenn ich an Stammtische denke, wenn ich an Internetforen denke, trieft der Hass. Wenn Leute „deutsch reden“ gleiten sie oft ins Negative. Kann die Politik da gegensteuern?

Um der vorausschauenden Vernunft eine Chance zu geben, und wenn es im ersten Moment belastend und langweilig wirkt, muss sich das gute Argument mit einer positiven Emotion verbinden. Umsetzung braucht Logik, breite Akzeptanz braucht Emotion. Ohne diese Emotion steht das sachliche Argument alleine und konkurriert mit hochgeschraubten negativen Emotionen, gewinnt dadurch häufig keine Mehrheit.

Politiker wie Trump brauchen das wohl, um sich selbst besser zu fühlen.

Die Verwertung von negativen Emotionen zur Abwertung von Menschen und Gruppen, rein des politischen Zwecks willen, ist verbreitet und bei einer schwachen politischen Mitte durchaus erfolgreich. Die Grenze wird nicht mit der Verwendung von Emotion überschritten, sondern mit der abwertenden Zuspitzung gegenüber Andersdenkenden zum Feindbild und Sündenbock. Von der abwertenden Respektlosigkeit zur Verachtung und von dort zur Gewalt, zumindest von psychisch labilen Einzeltätern, ist der Weg nicht so weit, wie es zunächst scheint. Da kann man echt einfahren. Das zeigt die Geschichte. Ein wesentlicher Unterschied, warum die Schweiz und Liechtenstein wirtschaftlich immer noch vermögender sind als wir, hat auch damit zu tun, dass sie die Reise in die Emotion in zwei Weltkriegen nicht mitgemacht haben. Abgesehen vom Verlust an Menschenleben ist das Vermögen von Generationen nicht verdunstet, sondern blieb vorhanden. Das ist ein Riesenunterschied, der auch mit höheren Wachstumsraten nicht leicht einholbar ist.

Ist Populismus ein rein politisches Phänomen?

Nein. Es gibt auch unfreiwillige Helfer zur Verbreitung von Wechselstimmung, die Populismus fördern. Interessenvertreter können beispielsweise das Negative systematisch übertreiben und unmögliche Erwartungen als erfüllbar behaupten, um gehört zu werden. Medien mit ihrem Hang zum Negativen und Spektakulären zur Stärkung von Auflage und Quote können auch ihren Beitrag leisten. Und das Negative ist in der Meinungsbildung zehnmal wirksamer als das Positive. Wenn ich über die Riedstraße nach Hause fahre, erzähle ich nachher meiner Frau nicht von den 99 entgegenkommenden Autos, die mich nicht geschnitten haben, sondern von dem einen anderen Fahrer.

Was können wir im Alltag beherzigen, um nicht in diese Richtung abzubiegen?

Das ist ja genau der Grund, weshalb die Verbindung von Verstand mit positiver Emotion und die Pflege positiver Emotion und Atmosphäre so viel bedeuten. Eine brauchbare Zukunft liegt in einer politischen Mitte mit Profil, Augenmaß und Durchsetzungskraft, ohne Hass, zu viel Wut und Verschwörungstheorien.

Die Menschen wünschen sich heute Spektakuläres. Wie kommt man da dagegen an?

Der häufigste gangbare Weg ist nicht der große Wurf oder der revolutionäre Akt, sondern der Schritt, wie in der Natur. Man sagt zu Recht Fortschritt und nicht Fortwurf oder Fortsturz. Die magische Vorstellung, etwas sei mit großer Geste perfekt planbar und machbar, ist ein Wunsch, der nicht aus dem Leben gegriffen ist. Darin liegt die Bedeutung des Kompromisses, in all seiner belastenden Langeweile. Nicht der faule Kompromiss, sondern der strategische Kompromiss, der das Ziel im Auge hat und das derzeit Mögliche tut. Das langfristig Notwendige braucht zur Umsetzung durchdachte Strategie mit Hausverstand, positive Emotion und Atmosphäre und die Bereitschaft zum Kompromiss.

Wunsch und Wirklichkeit, Emotion und Verstand:  das langfristig Notwendige
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