Dr. Alexander Becherer, Nuklearmediziner am LKH Feldkirch

Generell muss festgehalten werden, dass die lokalen Folgen einer Reaktorhavarie nicht nur vom Ausmaß des Schadens abhängen, sondern auch von der Wetterlage. Am Beispiel Tschernobyl sahen wir, dass die ukrainische Hauptstadt Kiew praktisch keinen Fallout hatte, weil eine Südströmung vorherrschte – der havarierte Reaktor steht 110 Kilometer (Luftlinie) nördlich von Kiew. Hingegen bekamen weiter entfernt gelegene Ortschaften beträchtliche Strahlendosen ab.
Für einen Reaktorunfall gibt es Empfehlungen der WHO (Weltgesundheitsorganisation)und des ICRP (Internationales Strahlenschutzkomitee), einen österreichischen, einen deutschen, einen Schweizer Aktionsplan, usw. Alle haben einen Eskalationskatalog, der je nach zu erwartender Strahlendosis, die in der Einheit Sievert (Sv) gemessen wird, den Grad der Schutzmaßnahmen erhöht. Diese reichen von Verbleib in Gebäuden für Tage über eine vorübergehende Evakuierung bis hin zu vorübergehenden oder permanenten Umsiedelungen. Zudem gibt es die Schilddrüsenblockade mit inaktivem Jod.
Ich gehe davon aus, dass ich die Nachricht von einer Reaktorhavarie zugleich mit der anderen Bevölkerung des Landes erhalte, nämlich aus den Medien. Dafür gibt es einen nationalen Aktionsplan. Ich selbst würde so breit ich kann informieren, unter anderem, dass man das Radio eingeschaltet lassen und sich an die Maßnahmen halten soll, die über den Rundfunk verlautbart werden.
Die beste Sofortmaßnahme ist, Fenster und Türen des Gebäudes, in dem man sich befindet, zu schließen und im geschlossenen Raum zu verweilen. Der Schutz im Gebäude wirkt als Strahlenschutz nach Freisetzung von radioaktivem Material in die Atmosphäre. Ich rate dringend ab, zu versuchen, „noch schnell nach Hause zu kommen“. Dieser Reflex ist zwar verständlich, aber genau deshalb würde auf den Straßen Chaos ausbrechen, und niemand könnte mehr „schnell nach Hause kommen“.
Die Versorgung mit Nahrung und im Bedarfsfall nicht kontaminiertem Wasser kann durch Einsatzkräfte gut von außen erfolgen. Die Einnahme von Kaliumjodid-Tabletten zum Schutz der Schilddrüse darf erst nach Verlautbarung durch die Behörden erfolgen. Die betroffenen Personengruppen sowie Dosis und Einnahmedauer würden bekannt gegeben. Durch unkontrollierte Einnahme kann mehr Schaden als Nutzen angerichtet werden.
Symptome einer akuten Strahlenerkrankung sind nach einer bei bereits wenigen Minuten entstehenden Belastung von etwa 1 Sv zu erwarten. Auch bei niedrigerer Dosis kann ein akutes Strahlensyndrom bemerkbar sein, wenn sie in sehr kurzer Zeit einwirkt. Das ist aber nur in unmittelbarer Nähe einer Strahlenquelle, also des beschädigten Reaktors, möglich. Beim Unfall in Fukushima wurde zwar bedeutende Radioaktivität freigesetzt, die Wolke zog aber mit der Luftströmung rasch aufs Meer hinaus und hat sich dort verteilt und verdünnt.
Strahlenopfer stellt man sich wohl ein wenig zu spektakulär vor. Nach einer AKW-Havarie wird es keine Österreicher geben, die versorgt werden müssen, da wir kein AKW im Land haben. Das größte akute Problem nach einem Strahlenunfall, auch mit relevanter Strahlendosis, sind die durch mechanische und thermische Einwirkung entstandenen Verletzungen. Erst nach sehr hohen Strahlenexpositionen ist ein akutes Strahlensyndrom zu erwarten. Diese Patienten bedürften einer Behandlung in einem Zentrum, das entsprechend ausgestattet ist.
Wichtig ist, dass bei einem derartigen Unfall bereits bei der Alarmierung auf die mögliche radioaktive Kontamination hingewiesen wird. In der Abteilung für Nuklearmedizin im Landeskrankenhaus Feldkirch können Unfallopfer auf ihre Kontamination gemessen werden. Voraussetzung ist, dass sie sich in vital stabilem Zustand befinden.
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