London verabschiedet sich offiziell von der EU

Spezial / 29.03.2017 • 20:38 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Ein Aktivist, verkleidet als Premierministerin May, sieht das Vereinigte Königreich auf dem Weg zu „Little England“. Foto: reuters
Ein Aktivist, verkleidet als Premierministerin May, sieht das Vereinigte Königreich auf dem Weg zu „Little England“. Foto: reuters

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Historischer Brexit-Antrag erreicht Brüssel.

london, brüssel. (VN) Großbritannien hat die Trennung von der Europäischen Union eingereicht. Neun Monate nach dem Brexit-Votum übergab der britische Botschafter Tim Barrow am Mittwoch das sechsseitige Austrittsgesuch an EU-Ratspräsident Donald Tusk. Damit beginnen die zweijährigen Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein Mitgliedsstaat die EU verlässt. „Das ist ein historischer Augenblick, nach dem es kein Zurück geben wird“, sagte die britische Premierministerin Theresa May im Parlament in London. Sie setze sich für einen „reibungslosen, geordneten EU-Austritt“ ein. Gleichzeitig betonte sie, eine starke Union sei auch im Interesse Großbritanniens.

Keine Ausnahmen

Ausnahmeregelungen beim Brexit für einzelne Regionen erteilte May erneut eine Absage. „Wir werden als ein Vereinigtes Königreich verhandeln“, stellte sie klar. Gegenwind weht der Premierministerin aber aus Schottland entgegen. Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete die Trennung Großbritanniens von der EU am Mittwoch als „Sprung ins Ungewisse“. May sei nicht in der Lage, grundlegende Fragen, etwa was der Austritt für die Wirtschaft und Gesellschaft bedeute, zu beantworten.

Die Regionalregierung droht im Streit um den Brexit-Kurs Londons mit einem neuen Unabhängigkeitsreferendum. Schottland will nämlich zumindest im europäischen Binnenmarkt verbleiben. Erst am Vortag hatte das schottische Parlament Sturgeon das entsprechende Mandat für eine Abstimmung über die Trennung von Großbritannien erteilt.

EU-Ratschef Tusk will den 27 verbleibenden EU-Staaten am Freitag einen Entwurf für die Leitlinien zu den Brexit-Verhandlungen vorlegen. Die Staats- und Regierungschefs werden diese am 29. April in Brüssel annehmen. „Es gibt keinen Grund, so zu tun, als ob dies ein freudiger Tag wäre, weder in Brüssel noch in London“, sagte Tusk. Der Brexit habe aber auch positive Seiten, er mache die 27 EU-Staaten entschlossener und geeinter.

Sowohl Brüssel als auch London sehen in den Verhandlungen vor allem drei Knackpunkte: Erstens muss der rechtliche Status von knapp 3,2 Millionen EU-Bürger im Vereinigten Königreich und einer Million Briten in den EU-Ländern geklärt werden. Zweitens dürfte auch die Schlussabrechnung über die finanziellen Pflichten Großbritanniens gegenüber der EU Stoff intensiver Gespräche werden: Brüssel setzt diese mit bis zu 60 Milliarden Euro an. Dazu kommt drittens die Frage hinsichtlich der künftigen Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland.

25.000 Österreicher

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bedauerte: „Wir verlieren einen starken und wichtigen Mitgliedsstaat.“ Auch ihr österreichischer Amtskollege Christian Kern (SPÖ) zeigte sich über die britische Entscheidung betrübt. Nun gehe es darum, den EU-Ausstieg „rasch und friktionsfrei“ zu vollziehen. Der Kanzler erinnerte an die Situation der rund 25.000 Österreicher in Großbritannien. Ihr rechtlicher Status müsse so schnell wie möglich geklärt werden.

Artikel 50

In Artikel 50 des EU-Vertrags ist geregelt, wie der Austritt abläuft. Nachdem London den Europäischen Rat offiziell vom Austrittswunsch unterrichtet hat, beginnen die Verhandlungen. Nach zwei Jahren muss der Prozess abgeschlossen sein. Die Frist kann verlängert werden – die Hürden dafür sind aber sehr hoch. Das Austrittsabkommen muss mit einer qualifizierten Mehrheit der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten beschlossen werden – von mindestens 55 Prozent der Länder, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Auch das EU-Parlament muss zustimmen. Wenn kein Abkommen zustande kommt und keine Fristverlängerung gewährt wird, würde Großbritannien nach zwei Jahren ungeregelt aus der EU ausscheiden.

Chronologie. Der Weg zum Brexit

23. Jänner 2013: Der britische Premier David Cameron verspricht ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens, wenn die Konservative Partei bei der nächsten Parlamentswahl gewählt wird.

18. September 2014: Die schottischen Wähler entscheiden bei einem Referendum, Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben, anstatt ein unabhängiges Land zu werden.

7. Mai 2015: Die Briten helfen einer konservativen Mehrheitsregierung an die Macht. Cameron bestätigt, dass es ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft geben wird.

20. Februar 2016: Cameron gibt bekannt, dass er ein Abkommen mit den EU-Staats- und Regierungschefs ausgehandelt habe, das London einen „Sonderstatus“ verleihen werde. Er will einen Wahlkampf für einen Verbleib Großbritanniens in der EU machen. Das Datum für das Referendum wird für Juni festgelegt.

16. Juni 2016: Eine Woche vor dem Votum wird die Labour-Abgeordnete und Kämpferin für einen Verbleib Großbritanniens in der EU, Jo Cox, von einem Extremisten ermordet. Der Täter ruft „Großbritannien zuerst.“

23. Juni 2016: Großbritannien stimmt mit 52 zu 48 Prozent dafür, die EU zu verlassen. Einen Tag darauf verkündet Cameron seinen Rücktritt.

11. Juli 2016: Die bisherige Innenministerin Theresa May wird designierte Premierministerin.

2. Oktober 2016: May sagt, dass Großbritannien das formale Verfahren des Austritts aus der EU (Artikel 50) bis Ende März 2017 starten werde.

24. Jänner 2017: Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens urteilt, dass die Regierung die Zustimmung des Parlaments benötigt, ehe sie den Artikel 50 aktivieren kann.

13. März 2017: Das Parlament stimmt einem Gesetzentwurf zu, der der Regierung die Befugnis gibt, Artikel 50 zu aktivieren. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigt Pläne an, ein zweites Referendum über eine Unabhängigkeit abzuhalten.

28. März 2017: May unterzeichnet in ihrem Regierungssitz in London den Brief, der den Brexit auslösen wird.

29. März 2017: Der britische EU-Botschafter Tim Barrow überreicht dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk den offiziellen Austrittsantrag.

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