Die mentale Verfassung

Lieber Herr Sausgruber, wollen wir heute grundsätzlich beginnen – was macht uns stark?
Grundlagen des politischen Geschehens sind neben handfesten Fakten wie Bevölkerungszahl und ihre Entwicklung, Wirtschaftskraft und Budgetausgleich auch die mentale Verfassung, die Verbreitung mentaler Stärken, Haltungen in der Bevölkerung und ihren Gruppen, die wirksame Atmosphäre schaffen.
Mentale Stärke?
Es ist wie im Sport, wo neben den körperlichen Voraussetzungen mentale Stärke eine entscheidende Rolle spielt. Und zwar nicht nur als Nervenstärke im Wettkampf, sondern vor allem als Fähigkeit, über Jahre konsequent auf ein Ziel hin zu trainieren. Es gibt auch zumindest grobe Kriterien zur Beurteilung. Man kann durchaus beobachten, dass mentale Stärke zum Erfolg führt.
Welche Kriterien legen Sie hier an?
Was im wirtschaftlichen Bereich die Wettbewerbsfähigkeit, hohe Beschäftigung oder breite Verteilung von Wohlstand ist, ist im mentalen Bereich beispielsweise die Verbreitung der Fähigkeit, Eigenverantwortung, Initiative wahrzunehmen, Leistung zu erbringen, sich ums Eigene zu kümmern, Chancen zu nutzen, solange man selber zurechtkommen kann, und nicht auf Hilfe zu warten und sie auch nicht zu erwarten.
Vor allem wollen aber immer mehr Menschen das tun, was ihnen gefällt.
Freiheit ist nicht nur der Spielraum, zu tun, was gefällt. Zur Freiheit gehört Verantwortung. Sie ist der Zwilling der Freiheit, zunächst in Form der Eigenverantwortung, die sich im Rahmen der Kräfte ums Eigene kümmert. Nur in Verbindung von Freiheit und Verantwortung funktionieren Gemeinschaften gut. Leitbild ist der selbstständige und nicht der grundlos betreute Mensch.
Gilt das für alle Gesellschaften?
Was man der Person zutraut und zumutet, ist in Gemeinschaften unterschiedlich ausgebildet, in Österreich etwas schwächer als in der Schweiz. Es geht um die Verbreitung der Akzeptanz des Gedankens der Leistung der Gesunden, Initiative, Wahrnehmung von Chancen, unternehmerisches Denken und um die Stärke von Risikobereitschaft im Vergleich zur Verbreitung von Angst. Die Haltung starker Eigenverantwortung ist das Gegenteil von mentaler Bürokratisierung des Lebens, die sich auf perfekte Absicherung, Kontrolle und enges Zuständigkeitsdenken verlässt.
Doch auch die Vorarlberger „Schaffar“ werden immer anspruchsvoller, nicht?
Wirtschaftlicher Wohlstand und seine breite Verteilung sind nicht schicksalhaft garantiert. Das ist nicht einmal die Deckung fundamentaler Bedürfnisse. Der Wohlstand muss ständig erarbeitet werden, braucht breite Leistungsmotivation, viel Know-how und großräumigen, stabilen Rahmen, eine große Mittelschicht aus fachlich kompetenten Arbeitnehmern und im Betrieb mitarbeitenden Unternehmern.
Das Auseinanderdriften von Arm und Reich ist dabei ein Thema.
Allein das Halten des Wohlstandes erfordert breite Leistung. Nur mit Umverteilung geht es längerfristig nicht. Es stimmt auch nicht, dass immer dann, wenn einer etwas gewinnt, ein anderer verlieren muss. Erfolg zu haben ist nicht unfair. Um die breite Leistungsmotivation zu erhalten, muss sich Leistung lohnen. Es braucht beispielsweise einen spürbaren Unterschied zwischen niedrigen Leistungslöhnen und gesetzlicher Mindestsicherung.
Wir gelten als Perfektionisten.
Das Maß ist die wettbewerbsfähige Leistung, nicht die perfekte Leistung. Der Leistungsgedanke findet seine Grenze in der Gesundheit, in den Interessen der Familie und der Umwelt.
Welche Zutaten sehen Sie, um den gesunden Hunger nach Leistung am Köcheln zu halten?
Eine wichtige Form der Leistungsbereitschaft ist der Lernwille, die Offenheit für Neues, konstruktive Veränderung. Diese Haltung setzt neben Neugier eine Grundbescheidenheit voraus: Alleswisser und Besserwisser lernen nicht und sind weniger erfolgreich. Jeder kennt solche „Gschidele“. Oft hilft ein Blick in die Geschichte: Lernende Haltung ist offen für eigene Erfahrung, Erfahrung anderer, Neuanfang nach Fehlern und weiß vor allem um die Grenzen des eigenen Wissens.
Es regiert dennoch der Individualismus, weniger die Solidarität. Ans große Ganze sollen etwa Politiker denken . . .
Eine entscheidende mentale Stärke ist die Dichte der Bereitschaft in einer Gemeinschaft, praktische Verantwortung für andere zu übernehmen. Es geht darum, Solidarität durch Handeln konkret und direkt zu geben, diese Hilfe selbst zu organisieren und zusammenzuarbeiten. Praktische Solidarität ist mehr als Rücksichtnahme, sie beinhaltet die Bereitschaft zur Hilfe in Not.
Politik diskutiert bei einem gewissen Wohlstand Solidarität oft aus der Geber-Perspektive.
Wichtig ist, dass Hilfsbedürftigkeit kein Randgruppenthema ist. Es ist ein Massenphänomen. Jeder Mensch, auch der gesunde und leistungsstarke, hat Phasen in seinem Leben, in denen er Unterstützung, Hilfe und Betreuung braucht. Schon allein als Kind, Kranker oder Pflegebedürftiger betrifft es jeden von uns.
Eine starke Zivilgesellschaft regelt Dinge selbst, der Staat tritt in Aktion, wenn es ihn braucht?
Wenn Eigenverantwortung, Eigeninitiative und Leistungsmotivation als mentale Haltung stark verbreitet sind und gleichzeitig ein hohes Maß an praktischer Solidarität im Nahraum funktioniert, gibt es für notwendige staatliche Leistungen mehr Kraft für verbleibende, durch Selbstorganisation und Markt nicht befriedigend bediente Bereiche. Es gibt auch etwas niedrigere Erwartungen an staatliche Leistungen und damit geringere Staats- und Steuerquote bei guter Qualität der Leistungen für alle und in der Fläche. Im guten Fall entsteht eine Atmosphäre in der Gemeinschaft, in der die Leistungsfähigen motiviert sind und jeder das begründete Gefühl hat, nicht im Stich gelassen zu werden, wenn er wirklich Hilfe braucht. Unsere Gemeinschaft braucht ein menschliches Gesicht. In der Balance von breiter Leistung der Gesunden und breiter praktischer Solidarität zur Hilfe in Not liegt viel Kraft für Gemeinschaften. Sie sind in Wirklichkeit nicht zu schlagen.
Um bei hoher Eigenverantwortung motiviert zu sein, müssen die Ziele klar sein. Wie ist das sicherzustellen?
Wenn konkrete, erreichbare Gemeinschaftsziele definiert werden, ist das ein Zeichen mentaler Stärke. Nach der Definition gilt es, diese dann auch anzustreben beziehungsweise zu verwirklichen. Man muss vieles unter einen Hut bringen: nicht nur die Trägheit der Verhältnisse einschließlich der Macht der Gewohnheit, auch die Vielfalt der Meinungen. Vor allem aber müssen wir die Interessen der einzelnen Gruppen und die Erwartungen in einer fruchtbaren und akzeptablen Form überwinden. Diese zentrale Fähigkeit zum konkreten Konsens bedarf des Zusammenwirkens von Führung und Bevölkerung und setzt neben dem Aufbau geeigneter wirksamer Vorstellungen Umsetzungskraft und Akzeptanz von Kompromissen voraus.
Spätestens hier reicht nicht mehr Vorarlberg als Vorstellung. Hier mag das ja noch funktionieren. Aber denken Sie an Europa!
Europa leidet derzeit massiv an mangelndem Konsens zum Ziel. Diese kontinentale Willensschwäche lässt auch – mangels mehrheitsfähiger Zustimmung – keine handlungsfähige Organisation entstehen und belastet unsere Zukunftsaussichten in der Tat sehr. Die Mitgliedsländer, die die Kraft aufbringen, sollten vorangehen.
Gerade in schwierigen Zeiten, zwischen Trump und Putin, wäre eine Krisenfestigkeit gefragt.
Ja, diese Fähigkeit zu Stabilität bei widrigen Umständen und Erschütterungen ohne Panik und Chaos, zum Neuanfang nach Misserfolg ist in kritischen Situationen entscheidend. Krisen, sogar Katastrophen können Chancen enthalten. Das gilt natürlich nicht nur im Großen, sondern auch für kleine Gemeinschaften. Die Erfahrung zeigt, dass auch Gemeinschaften im Laufe ihres Lebens Krisen und Katastrophen erleben und bei mentaler Stärke und handlungsfähiger Organisation auch gut überleben. In solchen Situationen wird bewusst, dass es nicht nur den Fortschritt und die Weiterentwicklung gibt, sondern auch den Schaden und den Verlust des Erreichten. Aus dieser Erfahrung entsteht Wertschätzung des Bestehenden, des Zusammenhaltens des Gemeinschaftsgefüges, von Stabilität und Verlässlichkeit. Die Sicherung des Erreichten läuft nicht von selbst, sie ist nicht selbstverständlich, sondern beruht auf der Anstrengung vieler.
Ist uns das alles im Alltag bewusst?
Mentalitäten und Motivationen schaffen wirksame Atmosphäre, man kann sie aber nicht machen. Man kann sie pflegen, erziehend trainieren, Vorhandenes fördern und koordinieren.
Wie können wir dieses Wissen vererben?
Eine überlebenswillige Gemeinschaft ist daran interessiert, mentale Stärken zu trainieren und an die nächste Generation weiterzugeben, die helfen, Krisen durchzustehen und Chancen wahrzunehmen. Deshalb muss beispielsweise die Jugend, die sich engagiert, vor den Vorhang. Ohne die Jungen geht es langfristig nicht weiter.

Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.