Präsidiale Fürbitten
Stabilität ist alles andere als prickelnd. Und oft genug spürt man erst, wie gut und wie wichtig Stabilität war, wenn sie weg ist. Im aktuellen Fall haben die Österreicher spröde Stabilität gewählt. Unbeschreiblich wichtig in dieser unsäglich unsicheren Situation. Und damit ist schon alles gesagt, was an dieser Stelle über diesen notwendigen, aber nicht aus ganzem Herzen ausgesprochenen Auftrag für eine zweite Halbzeit gesagt werden soll. Reden wir bitte über die wirklichen Probleme.
Streben nach Frieden. Russland muss sich aus dem Gebiet der Ukraine zurückziehen. Möge der Bundespräsident künftig nicht nur hinter verschlossener Tapetentür klar und deutlich aussprechen, was er denkt, wenn beispielsweise Bundeskanzler Karl Nehammer zu einem unabgesprochenen Ausflug nach Moskau und Kiew ausrückt. Es steht viel auf dem Spiel für die Menschen in Europa. Demzufolge gut europäisch eingebettet muss die Außenpolitik Österreichs sein.
Diskussion über die Auslegung der Neutralität. Die Zeitenwende verlangt nach einer Neubewertung der Neutralität. Sie war notwendig, um den Staatsvertrag zu erhalten. Führt sie uns aber in das neue Zeitalter? Die einstige Kandidatin für das höchste Amt im Staat, Irmgard Griss, sagte 2015 den VN: „So, wie ich das sehe, ist die Neutralität ein Teil der österreichischen Identität, aber ohne, dass man sich wirklich klar darüber ist, was sie bedeutet.“ Dem Bundespräsident kommt in der Klärung dieser sensiblen Frage eine besondere Rolle zu.
Österreich auf den Klimawandel vorbereiten. Im “Land der Berge” wird durch brüchigen Fels, verschwindende Gletscher und heftigere Niederschläge nicht weniger als eine Neudefinition unseres alpinen Lebensraumes notwendig. Apropos Lebensraum: der gehört in Ortszentren und Städten weitgehend noch den Autos. Auch hier kann der Präsident eine aktivere Rolle in der Diskussion einnehmen.
Energieautonomie. Was Vorarlberg sich für die fernere Zukunft auf die Fahnen geschrieben hat, muss nun bundes-, ja europaweit unglaublich schnell gehen. Wie können wir für uns selbst sorgen? Wie kann sich dieses Land, das sich von Putin einlullen ließ, von Russland unabhängig machen?
Teuerung. Mit den exorbitanten Energiepreisen droht eine sich weiter verschärfende Teuerung, die alle Österreicherinnen und Österreicher heute bereits in so vielen Lebensbereichen spüren. Der Bundespräsident ist als Fürsprecher der Schwächeren stärker gefordert, die Maßnahmenhektik der Bundesregierung langfristiger zu bewerten. Langfristiger als bis zur nächsten Meinungsumfrage oder zum nächsten Bundesländer-Wahltermin.
Korruption und politische Deals. Schutz der Institutionen, klare Leitplanken für Angriffe von Parteien auf Justiz und Rote Karte für parteipolitische Deals. Wenn die Posten der Republik in Chats verteilt werden, muss der Präsident Einhalt gebieten.
Damit ist der Hauptauftrag, so viel langfristige Stabilität zu liefern wie möglich in diesen kurzatmigen instabilen Zeiten. Damit die Politik sich um die Menschen kümmern muss. Und nicht um sich selbst.
Gerold Riedmann
gerold.riedmann@vn.at
05572 501-320
Twitter: @gerold_rie
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
Kommentar