Vom „Norweger mit Flow“

Halvor Egner Granerud gehört zum Kreis der engen Favoriten für die 69. Tournee-Auflage.
Oberstdorf Ein Athlet ist vor der 69. Vierschanzentournee besonders in den Vordergrund gesprungen. Der Norweger Halvor Egner Granerud dominiert den Springer-Zirkus vor der mit der Qualifikation in Oberstdorf (heute ab 16.30 Uhr, live auf ORF1) beginnenden Traditionsveranstaltung. Er war vor dieser Saison kein Sieger, dann schlug er gleich fünf Mal in Serie zu. Was macht diesen 24-Jährigen so stark?
Befragt nach dem Senkrechtstarter sind sich die Leute mit dem geschulten Auge einig: Da ist einer im für Skispringer berühmt-berüchtigten Flow. „Es geht alles ganz einfach. Dann gibt es im Springen oft solche Seriensieger“, sagt Stefan Horngacher, der Tiroler Cheftrainer des deutschen Teams, über das Phänomen Granerud.
Starkes Gesamtpaket
Nur auf Form oder gar Zufall aufgebaut sehen er und auch Horngachers früherer Teamkollege Andreas Widhölzl Graneruds Erfolgslauf keineswegs: „Er hat ein gutes Paket von Technik und Material beisammen und ist derzeit sicher verdient ganz vorne“, sagt Widhölzl. Horngacher analysiert: „Er hat eine ganz gute Anfahrtsposition, sehr stabil durch den Radius, er kommt mit einer perfekt ausbilanzierten Position zur Kante hin. Er macht eine sehr gute Streckbewegung mit den Beinen, er hat eine ‚sauguade‘ Skiführung über dem Vorbau.“
Nach einer Saison, in der er als ambitionierter Athlet wenig Gutes gefunden hatte, schrieb Granerud eine E-Mail, adressiert an Alexander Stöckl und mit der Bitte, man möge ihm seine Schwächen doch noch einmal schriftlich vor Augen führen. „Er war im letzten Jahr zu detailfokussiert, im Herbst hat er sich irgendwie verloren“, sagt Stöckl, seines Zeichens Langzeit-Cheftrainer der Norweger. Die Antwort dürfte dem Sportler gefallen haben. „Er hat gesagt: Passt, jetzt kenne ich mich aus“, erzählt Stöckl und attestiert: „Er sieht jetzt den roten Faden.“
Akribischer Arbeiter
Diese Begebenheit mag für Graneruds Erfolg gar nicht das entscheidende Puzzleteil gewesen sein. Doch es verdeutlicht den Charakter. „Halvor ist ein extrem gewissenhafter Athlet mit großen Zielen, die er dann wirklich stur verfolgt. Er ist ein kluger Bursche, der sehr reflektiert für seine 24 Jahre ist“, sagt der Tiroler Stöckl über seinen Schützling. „Der Nachteil, wenn man etwas im Kopf hat, ist, dass man sich leichter verzettelt.“ So wie im Winter davor. Fünf oder mehr Weltcupsiege in Folge hat in der Saison 2018/19 Ryoyu Kobayashi geschafft – er triumphierte damals in der Tournee, landete nun in der laufenden Saison aber nie besser als auf dem zwölften Rang.
Granerud genießt inzwischen den Moment. „Ich werde schon morgen damit anfangen, von Oberstdorf zu träumen“, sagte der Vize-Skiflug-Weltmeister zuletzt. Die Tournee bringt eine neue Situation. „Man muss schauen, wie er mit dem Druck jetzt umgeht“, sagt Widhölzl, der aber die Beständigkeit sieht. „Er macht fast keine Fehler.“ Horngacher spricht für das starke deutsche Team: „Wir alle wissen natürlich auch, dass die Siegesserie irgendwann zu Ende sein wird. Wir werden dort den Hebel ansetzen und versuchen, diese Serie bei der Vierschanzentournee zu beenden.“