Die patriarchale Gier des System
Thomas Zerlauth (53) über den „Fall“ Simone Biles.
Lauterach Die durch die „Aussetzer“ von Simone Biles und Naomi Osaka ausgelöste Diskussion um mentale Gesundheit geht in weiten Teilen am eigentlichen Problem vorbei. Es geht in erster Linie eben nicht um die mentale Gesundheit der Sportler, sondern um die Folgen eines vollkommen pervertierten, freudlosen und auf patriarchaler Gier beruhenden Systems.
Dass viele Sportler daran zerbrechen, hat nichts mit ihrer mentalen Verfassung, Leistungsfähigkeit oder Gesundheit zu tun. Sie alle sind Ausnahmekönner, die sich mit einer kaum vorstellbaren Disziplin und Hingabe ihrem Sport widmen, die über mentale Spitzenfähigkeiten verfügen, die man in praktisch keinem anderen Beruf in dieser Perfektion findet.
Sie spielen allerdings auf einer Bühne, die nichts mit der Freude und Lebendigkeit gemein hat, die sie ursprünglich begeistert und in ihren Bann gezogen hat. Was in den Anfängen ein Ausdruck reiner Lebensfreude und Lebendigkeit war, wurde längst von der „Performance“, dem „Leidensdruck“, dem „Repräsentieren“ und – wie man aktuell sieht – den erdrückenden Erwartungshaltungen von Sponsoren, (Sozialer) Medien und aktuell ganzer Nationen, ein- und vielfach überholt.
Nicht nur die Sportler leiden
Hier leiden nicht nur Sportler, sondern wir alle leiden. Wir leiden an einer Kultur der Männlichkeit, die sich nur auf äußere, definierbare, messbare und isoliert betrachtete Ziele fokussiert. Wir leiden an einer Unterdrückung des Glücks und einer Unterjochung des weiblichen Prinzips und rauben damit dem Leben alles Schöpferische, Lebendige, Empfangende und Schöne.
Diese Sportler haben kein Problem mit ihrer mentalen Gesundheit, sondern unser selbst gewähltes System erfährt augenblicklich seine Grenzen. Mutter Erde demonstriert uns diese Grenzen im Großen, die erwähnten Sportlerinnen zeigen uns das stellvertretend für viele andere SportlerInnen und letztlich für uns alle. Männer wie Frauen. Dieses System befindet sich im Untergang und alles, was sich darin befindet, befindet sich im Prozess zunehmender Verarmung und Isolation. Unsere sehr einseitige Betonung des männlichen Prinzips hat uns vergessen lassen, worum es im Wesentlichen geht.
Empfundene Lebendigkeit
Alle Sportler lieben diese magischen Momente des „Flow“, des „Sich im Fluss (des Lebens) Befindens“, des „Aufgehens im Moment“. Sie lieben das Gefühl, von nichts getrennt zu sein und sich als ganzer Mensch in dem wiederzufinden, was sie gerade tun. Sie lieben dieses Gefühl der tief empfundenen Lebendigkeit, der Freude und dieser oft mystischen Erfahrungen zeitloser Gegenwart und in die Unendlichkeit reichenden Stille. Jeder Sportler, der jemals eine gewisse Leistungsgrenze überschritten hat, weiß, wovon hier die Rede ist.
Diese Spitzenkönner wurden natürlich auch trainiert, diesen stetig wachsenden Erwartungsdruck auszuhalten und im entscheidenden Moment verdrängen zu können.
Dennoch dominiert das System und dann und wann stürzt das enorme Gewicht der geballten Erwartungen auf die SportlerInnen und reißt sie brutal aus der Gegenwart in die Vorstellung des Erwarteten und damit des Zukünftigen.
Wie soll eine Sportlerin den Moment genießen, wenn sie sinnbildlich bereits im Ziel steht? Wie soll man Freude erfahren, wenn es darum gar nicht mehr geht? Wie soll man sich selbst als lebendiges Wesen zum Ausdruck bringen, wenn es nur um die Erreichung eines vorgegebenen, profitablen und letztlich ausbeuterischen Zieles geht?
Das Erreichen dieser Ziele berührt uns nicht im selben Maß, wie uns ein Mensch berührt, der zu seinem Wesen gefunden hat, der menschlich und wahrhaftig ist. Jemanden, der dieses zerstörerische und schmerzhafte Gefühl der Trennung und Isolation überwinden konnte und in sich selbst ruht. Der die Einheit in den Gegensätzen wiedergefunden hat und als bewusstes und mitfühlendes Wesen das Leben wahrnimmt.
Auf dem Holzweg
Wir sollten uns als Gesellschaft darüber Gedanken machen, wenn uns junge Menschen und begeisterte Sportler sagen, dass wir uns mit unseren Ego-Huldigungen, Zukunftsvorstellungen und Erwartungshaltungen auf dem Holzweg befinden. Wir sollten einen Moment innehalten und uns fragen, ob wir diesen Druck, im Licht öffentlicher Erwartungen zu stehen, selbst als irgendwie erstrebenswert erachten.
Wir brauchen aber gar nicht so weit zu gehen. Viele sind ja selbst bereits beherrscht von den Dingen, die sich in unserem Kopf abspielen und die uns in einen Grundzustand der Überforderung, inneren Unruhe oder Angst versetzen. Es soll nicht unser Ziel werden, diese Gefühle mit weiteren „positiven“ Zukunftsvorstellungen zu überlagern oder unsere negativen Gedanken gekonnt zu unterdrücken. Ein einfacher Weg besteht darin, uns bewusst auf den gegenwärtigen Moment einzulassen. Voller Achtsamkeit und ohne zu bewerten. Das ist eine Kunst . . . die erlernt werden kann.
„Die Sportler haben kein Problem mit ihrer mentalen Gesundheit, sondern unser selbst gewähltes System erfährt seine Grenzen.“
Thomas Zerlauth veröffentlichte bereits vor 25 Jahren mehrere bekannte Publikationen zum Thema „Mentales Training im Spitzensport“. Er arbeitet als Berater und Markenentwickler.